Afrikanischer Jesus - Diakon Karlheinz Six

Diakon Karlheinz Six

Relative Bekenntnisse

Titelbild: Relative Bekenntnisse

In letzter Zeit habe ich mich ein wenig über chinesische und japanische Religionen informiert. Und dabei bin ich auf eine interessante Entwicklung gestoßen, die in mir Anfragen an das Christentum hervorgerufen haben.

Die – sagen wir mal – ursprüngliche Religion in Japan wird Shintȏismus bezeichnet. Das Wort Shintȏ stammt aber selbst aus dem Chinesischen, nämlich von shen-tao, und greift damit einen zentralen religiösen Begriff Chinas auf, nämlich das Tao. Tao wird gewöhnlich mit „Weg“ übersetzt, kann aber auch „Sinn“ oder anderes meinen.

Wie dem auch sei. Im 6. Jahrhundert kam dann der Buddhismus über China und Korea nach Japan. Dort entwickelte er ein eigenständiges, sehr soziales, d. h. auf die Nöte der Menschen ausgerichtetes Profil. Er war mehr auf das Diesseits als auf das Jenseits ausgerichtet. Um nur ein kleines, aber prägnantes Beispiel zu nennen: Suzuki Shōsan (16. Jh.) meinte einst, dass es für die Mönche besser wäre zu arbeiten als zu meditieren. Letzeres wäre ein müsiges Unterfangen. Dieser Buddhismus passt so gar nicht in das europäische Bild dieser Religion.

Aber das eigentlich für mich interessante ist folgendes: Zunächst sah der Buddhismus es als Auszeichnung an, dass er in vielen Schulen und Sekten gegliedert war, die teilweise auch sehr Widersprüchliches lehrten. Die Hochschätzung der Pluralität änderte sich im Laufe der Zeit, sodass man im 20. Jahrhundert bestrebt war, die buddhistischen Sekten zu vereinigen. Das Stichwort hier ist „Vereinigung“, nicht „Vereinheitlichung“. Es ging eben nicht darum, die Lehre der einzelnen Schulen zu verändern, zu vereinheitlichen. Vielmehr wollte man alle Schulen zu einer allbuddhistischen Organisation vereinigen.

Dahinter stand der Versuch, den japanischen Buddhismus zu modernisieren. Man glaubte, dass dazu die „übersektliche“ Vereinigung von bestimmten Gruppen (Frauen, Jugend etc.) sinnvoll wäre, aber auch ein gemeinsames Vorgehen zur Erlangung von Finanzmittel erleichtert würde.

Um eine solche Vereinigung zustande zu bringen, tabuisierte man die Lehre. Mit anderen Worten: Es wurden ausdrücklich die buddhistischen Lehren der einzelnen Sekten wie auch Lehrgespräche in den Hintergrund verbannt. Die Lehrgegensätze stellen ein Hindernis zur allbuddhistischen Vereinigung dar, also soll darüber nicht gestritten werden.

Dies war nur möglich, da die Lehre in der Religion insgesamt keinen hohen Stellenwert einnahm. Das gemeinsame Anliegen, aber auch die Praxis zählten mehr als die Lehre. Sie war zwar nicht unwichtig. Immerhin gab es unter den einzelnen Schulen genügend Auseinandersetzungen darum. Aber sie war nicht das Wichtigste.

 


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Ich denke nun an das Christentum. Ich habe mich zunächst gefragt, warum solches nicht einfach auch im Christentum möglich ist? Hat man nicht hier immer mit Ausschlussmechanismen gearbeitet? Je länger ich nachgedacht habe, desto komplizierter ist es geworden. Hier nur ein paar, sehr unsystematische Gedanken dazu:

  1. Im Neuen Testament scheint das Judentum sich selbst sehr stark gegen andere Gruppen abzugrenzen. Und dennoch war es keine einfach Religion des Ausschlusses. Es scheint zwar oft so zu sein, dass das Fremde abgelehnt wurde. Das ist aber eher ein Vorurteil, denn im Alten Testament wurde der Umgang mit den Fremden heiß diskutiert. Man vergleiche einfach die Bücher Judith und Esther, die in der Frage der Anerkennung von Fremden einen konträren Standpunkt zwischen Abgrenzung und Assimilation vertreten. Außerdem heißt es auch an mehreren Stellen in der Tora, dass man die Fremden aufnehmen soll, denn Israel war selbst einmal fremd.

  2. So gab es innerhalb des Judentums zur neutestamentlichen Zeit unterschiedliche Gruppierungen, die widersprechende Lehren vertraten, aber alle im Tempel von Jerusalem opferten. Die lehrmäßigen Unterschiede führten also nicht einfach zur kultisch-liturgischen Trennung.

  3. Auf der anderen Seite gab es da aber die Samaritaner*innen. Sie lehnten den Kult im Jerusalemer Tempel ab und opferten stattdessen auf derm Berg Garizim. Dieser Unterschied führte dazu, dass sich die Juden Judäas und Galiläas nicht mit den Samaritanern einlassen wollten. Vielmehr grenzten sie sich stark von ihnen ab, wie sie es auch von den so genannten Heid*innen, also Anhänger*innen nicht-jüdischer Religionen, taten.

  4. Jesus sprengte diese Grenzen auf, gab sich nicht nur mit Juden, sondern auch mit Samaritaner*innen und Heid*innen ab. Auch die frühen Christ*innen entschieden sich, diese ethnischen Grenzen zu überschreiten. Und doch findet man im Neuen Testament schon Ausschließungen. Hier wäre es wert noch genauer hinzuschauen, nach welchen Kriterien ausgeschlossen wurde. Ein Kriterium ist sicherlich die Gefährdung der Gemeinschaft in Zeiten der Christ*innenverfolgung. (Höre dazu meine Podcast-Episode über die Beichte – erscheint am 27. 10. 2023.)

  5. Ich frage mich also: Welche Lehre muss jemand vertreten, damit er ausgeschlossen wird? Und welche Lehre ist gerade noch akzeptabel? Oder geht es eher um persönliche Animositäten, also dass sich irgendein Typ mit der Leitfigur anlegt? Wo es also mehr um persönliche Antipathie als um lehrmäßige Unterschiede geht? Und sind dann Ausschlüsse nicht bloß eine Frage der Macht?

    (Ich verweise an dieser Stelle auf das Buch von Alfred Läpple „Ketzer und Mystiker“, der sehr schön aufzeigt, welche Mechanismen am Werk sind, ob jemand als Ketzer*in oder als Mystiker*in gegolten hat. Es waren nicht immer – oder soll man sagen: selten – die Unterschiede oder Übereinstimmungen mit der offiziellen Lehre der Kirche.)

    Jedenfalls gab es in der Kirchenentwicklung immer wieder Ausschlüsse und Abspaltungen. Es gab zu keinem Zeitpunkt nur eine Kirche.

  6. Ich mache nun einen Sprung: Heute haben wir im Christentum verschiedene Konfessionen (römisch-katholisch, evangelisch, orthodox, anglikanisch, altkatholisch, freikirchlich …). Sie sind alle eigenständige Organisationen, jede etwas anders strukturiert. Alle mit Ausnahme der römisch-katholischen Kirche (teilweise Mitarbeit) sind im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) zusammengeschlossen. Zum Teil werden die Sakramente gegenseitig anerkannt: so zum Beispiel die Taufe. Katholiken dürfen zu Kommunion bei den Orthodoxen gehen, auch zur Beichte – und umgekehrt. Um nur ein paar Beispiele zu nennen.

  7. In der Praxis gibt es also schon Verbindungen. Diese Verbindungen scheinen aber nur dann möglich zu sein, wenn zuvor die Lehre eine gemeinsame ist. So anerkennt die römisch-katholische Kirche die Kommunion der evangelischen Kirche nicht an, weil es keine gleiche Lehre darüber gibt – im Gegensatz zu den Orthodoxen.

    Ganz anderes Beispiel: Die Konfessionsbildungen der Neuzeit haben alle auch damit zu tun, dass die Lehre unterschiedlich ist. Im 16. Jahrhundert der Streit um viele theologischen Fragen mit Martin Luther, im 19. Jahrhundert die Nicht-Anerkennung der Unfehlbarkeit und des Jurisdiktionsprimates des Papstes und im 20. Jahrhundert die Ablehnung des II. Vatikanischen Konzils und die Nicht-Anerkennung der Päpste ab Johannes XXIII.

  8. Aber die römisch-katholische Kirche ist keine uniforme Kirche, so sehr das außenstehende Kritiker*innen auch meinen. Sie inkludiert eine große Pluralität. Ja, eine Pluralität, die nicht nur in der Praxis bei einheitlicher Lehre besteht, sondern teilweise auch bei unterschiedlicher Lehre.

    Mein Lieblingsbeispiel dazu ist der als konservativ geltende P. Benedikt XVI.

    In der anglikanischen Kirche war die Weihe von Frauen immer umstritten, obwohl schon lange zugelassen. Benedikt schuf nun ein eigenes Rechtsinstitut für übertrittswillige Anglikaner*innen, die aufgrund ihrer Unzufriedenheit konvertieren wollen. Er ermöglichte also Pluralität, denn diese Konvertit*innen durften ihre Traditionen beibehalten. Hier gilt also die Ablehnung der Frauenweihe als so starke lehrmäßige Übereinstimmung, dass man über andere Unterschiede hinwegsehen kann.

    Ähnliches gilt an anderer Stelle: Benedikt erleichterte den Zugang zur „alten“ Messe, was P. Franziskus wieder einschränkte. D. h. Benedikt ließ zu, dass es zwei Arten von Messen gibt, die aber auf fundamental anderen lehrmäßigen Prinzipien beruhen, die sich teilweise auch widersprechen.

    Also gibt es innerhalb der römisch-katholischen Kirche eine gewisse Toleranz gegenüber lehrmäßigen Unterschieden und Widersprüchen.

  9. Aber alles hat seine Grenzen und so könnten an dieser Stelle viele Beispiele folgen, wo lehrmäßige Unterschiede nicht mehr toleriert wurden: zum Beispiel bei den Theologen Eugen Drewermann und Hans Küng. Oder in der Auseinandersetzung mit der lateinamerikanischen und afrikanischen Befreiungstheologie. Usw. Auch gelang es P. Benedikt nicht, die Piusbruderschaft wieder mit der katholischen Kirche zu vereinen. Die Leugnung des Holocaust durch einen hochrangigen Vertreter dieser Vereinigung war dann doch zu viel.

  10. Gerade letztes Beispiel wirft die Frage auf, ob man tatsächlich jede Lehre akzeptieren kann, ob man wirklich einfach die Lehre in den Hintergrund rücken kann? In diesem Sinn forderte die Vorsitzende der deutschen Katholik*innen, den Ausschluss von AfD-Politiker*innen von allen ehrenamtlichen Funktionen in der Kirche. Was noch kein Ausschluss aus der Kirche ist. Aber will ich jede Ansicht in meiner Kirche gelten lassen?

Ich habe keine endgültige Antwort: Natürlich kann man sagen, jeder Mensch – auch der Böse und der, der eine dumme oder gefährliche Ansicht vertritt – ist ein Geschöpf Gottes und soll daher angenommen werden. Diese Annahme würde zeigen, dass nicht die Ansicht, die Lehre dieses Menschen zählt. Oder dass sie zumindest weniger zählt als sein Menschsein im Angesicht Gottes. Hätte sich also der Papst doch für die Aufnahme der Piusbrüder einsetzen sollen? Sollen rechtsextreme Positionen wirklich auf Funktionärsebene vertreten werden? Sollen Menschen, die das Überleben einer Gemeinschaft gefährden, wirklich Teil dieser Gemeinschaft sein? Ich wage das nicht zu bejahen.

Aber vielleicht sollten wir zumindest eingestehen, dass die Konfessionen alle eine gewisse Relativität haben, dass die Abgrenzung, obgleich organisatorisch gefestigt, in der Praxis nicht so strikt gehandhabt werden muss, dass wir auch innerhalb einer Konfession Ungleichzeitigkeiten, unterschiedliche lehrmäßige Zugänge durchaus zulassen können, mehr als es die römisch-katholische Kirche derzeit tut.

Die Einheit einer Gruppe muss nicht unbedingt über die einheitliche Lehre konstituiert werden, sondern zum Beispiel auch über das eine Gespräch, dass wir im Glauben miteinander führen, auch wenn die Gesprächspartner unterschiedliche Positionen haben. Mit einem Fremdwort könnte man das „Synode“ nennen – „der gemeinsame Weg“ – das gemeinsame Tao.

Wäre es im Christentum – wie im japanischen Buddhismus – nicht auch möglich, Frauen, Jugendliche und andere Personengruppen über die Konfessionsgrenzen hinweg zu vereinigen? Oder müssen wir hier wirklich auf die lehrmäßigen Unterschiede bestehen? Sollte nicht mehr zählen, dass wir alle an Jesus Christus glauben, auch wenn wir es in Details unterschiedlich tun? Sollte also das Gemeinsame mehr Gewicht haben als die Unterschiede? Oder noch weiter gedacht: Sollte das gemeinsame Beten und der gemeinsame Einsatz für die Menschen nicht mehr Gewicht haben als die lehrmäßigen Unterschiede? Sollte also die Praxis nicht mehr zählen als die Lehre?

Obwohl selbst plural hat sich die römisch-katholische Kirche damit immer schwer getan. Andere Konfessionen zum Glück nicht.


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