Der nachfolgende Text stammt aus einem Entwurf für mein nächstes Buch.
Euer Feedback freut mich?
Was lest ihr heraus?
In die Augen schauen
Der Tor: Hier hab ich heißes Wasser und eine Schachtel voll unterschiedlichem Tee.
David: Oh, danke, danke.
Der Tor: Ich hoffe, du bist gut versorgt.
David: Natürlich. Aber ich glaube, du hast die Geschichte nicht fertig erzählt.
Der Tor: Ja, das stimmt. Also, sie hat mich gefragt, ob ich ihr Geld geben könnte. Und nach einer Schrecksekunde bei mir, habe ich gefragt, wie viel sie denn braucht. Sie hat gemeint, sie freut sich über jede Unterstützug. Ich habe dann gemeint, es wäre gut, dass ich das einschätzen könne. Ob es 10 Cedi oder 500 sind. Sie meinte dann 270 Cedi.
David: Wie viel Euro sind das?
Der Tor: 20. Das sind 20 Euro. Das musst du dir vorstellen. Sie arbeitet und hat keine 20 Euro für eine medizinische Untersuchung. In welcher Welt leben wir eigentlich? Ich habe die Welt nicht mehr verstanden, in der so etwas möglich ist. Und sie muss quasi einen Hotelgast bitten, sie zu unterstützen. Das Einkommen reicht nicht, um ausreichend medizinisch verorgt zu werden. Und dann klammert man sich an jeden Strohhalm.
David: Sie war ja sei mutig, dich zu fragen.
Der Tor: Ich würde eher sagen: verzweifelt. Es ging um irgendeine wichtige gynäkologische Untersuchung. Keine Ahnung. Im Nachhinein hab’ ich mich auch über mich selbst geärgert.
David: Wieso?
Der Tor: Ich habe ihr das Geld natürlich gegeben. Aber ich habe ihr gesagt, sie soll den anderen nicht sagen, dass ich ihr das gegeben habe. Ich möchte nicht, dass jetzt alle kommen und Geld wollen.
David: Aja, schon wieder deine Angst.
Der Tor: Ja, genau. Wovor habe ich da Angst. Sie knöpfen mir ja keine tausende von Euro ab. Es geht doch alles um solche Mini-Beträge. Also für uns mini. Für die sind das große Summen.
David: Du versuchst dich halt zu schützen.
Der Tor: Ja, eh. Aber wovor? Es gibt doch gar keine Gefahr. Angenommen, die anderen Angestellten wären auch gekommen: Die sind doch alles freundliche Menschen gewesen. Die hätten mich nicht überfallen. Sie hätten mich um etwas Geld gebeten. Und wäre ich dann arm geworden? Nein, kein Stück. Ich kann mir immerhin eine solche Reise leisten. Dann werd’ ich wohl noch ein paar Euro mehr verschmerzen können.
David: Ich habe eine solche Erfahrung noch nie gemacht. Aber ich denke mir gerade: Vielleicht sollten wir uns viel mehr noch in die Augen sehen.
Der Tor: Ja, ganz genau. Das denke ich mir auch oft. Warum sind die Menschen dort gegen Ausländer und Flüchtlinge, wo gar keine leben? Weil sie ihnen nicht in die Augen geschaut haben. Warum wollen Reiche ihren Reichtum vermehren und merken gar nicht, wie sehr das zu Lasten von Armen geht? Weil sie ihnen nicht in die Augen gesehen haben. Warum gibt es so viel Hetze im Internet und in den Sozialen Medien? Weil man sich da nicht in die Augen sehen kann.
David: Da hast du einen wahren Punkt getroffen. Kennst du Marina Abramović?
Der Tor: Nein, wer ist das?
David: Das ist eine Performance-Künstlerin aus Serbien. 2010 hat sie ihre bekannteste Performance im Museum of Modern Arts in New York abgeliefert. „The artist is present“ hat sie geheißen. Über drei Monate hinweg ist sie täglich 8 Stunden im Museum gesessen. Die Leute hatten die Möglichkeit, sich ihr gegenüber zu setzen und ihr in die Augen zu sehen. Mehr nicht. Selbst wenn du dir die Videos auf YouTube ansiehst, wirst du in den Bann gezogen. Die Menschen haben ernst geschaut, sie haben gelacht, sie haben geweint. Alle Emotionen nur durch das Schauen in die Augen.1
Der Tor: Sehr interessant. Schick mir mal ein paar Links, wo ich das ansehen kann. Warte kurz. Ich komme gleich wieder.
1 Webseite von Moma New York: https://www.moma.org/artists/26439 (abgerufen am 22. 11. 2024)
Video auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=Sf8o1teJdXo (abgerufen am 22. 11. 2024)
Gesprächssendung „Sternstunde Philosophie“ mit Marina Abramović vom SRF vom 4. 11. 2024: https://www.youtube.com/watch?v=ao00uS_VeOU (abgerufen am 22. 11. 2024)