Wer vermisst Gott eigentlich? Ist denn Gott abwesend? Der neueste Atheismus ist sich der Leerstelle bewusst, die ein abwesender Gott hinterlässt. Er wird vermisst. Und doch hat Gott gesagt, dass er einmal kommen wird. Nur wann?
Ich beziehe mich auf diese Bücher:
Gregor Maria Hoff, Ein anderer Atheismus
Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung
Albert Camus, Mythos des Sisyphos
Hier der erwähnte Podcast über Simone Weil:
Transkript
Herzlich Willkommen zur 63. Episode.
Jene Folgen, die sich auf die Fastenzeit beziehen bilden in den Titeln einen vollständigen Satz. Zusammengenommen heißen die beiden letzten Folgen: „An der Türschwelle des Lebens schaust du zurück …“ Und heute fügen wir diesem Satz „ … und vermisst Gott …“ hinzu.
Es geht heute um das Vermissen Gottes, das schon im letzten Podcast angeklungen ist. Wir befinden uns an der Türschwelle, am Ort der Entscheidung. Wir haben zurückgesehen auf die Befreiungstaten Gottes in der Vergangenheit. Und das hat uns in die Situation versetzt, dass wir Gott vermissen, weil er jetzt nicht da ist. Weil wir von ihm allein gelassen sind.
Darüber geht es in dieser Folge. Und das wird mich am Ende auch zu einer Spiritualiltät des Karsamstages führen.
Bevor es aber losgeht, möchte ich mich bei allen treuen Hörerinnen und Hörern bedanken. Es freut mich, wenn ihr meine Folgen mit eurem Netzwerk teilt, sodass sie auch andere hören können. Nachrichten von euch und Kommentare auf meiner Webseite lese ich immer gern. Ganz herzliches Danke an all jene, die mich über ko-fi oder PayPal auch finanziell unterstützen. Das hilft mir, meine Online-Angebote nicht durch lästige Werbung finanzieren zu müssen.
Und jetzt geht’s los.
Der katholische Theologe Gregor Maria Hoff geht in seinem Buch „Ein anderer Atheismus“ von einem Doppelmotiv des zeitgenössischen Unglaubens aus: Einerseits setzt dieser Atheismus auf eine Spiritualität ohne Gott, andererseits ist diese Spiritualität gekennzeichnet durch ein Vermissen Gottes. Hoff verweist dabei auch auf eine Aussage des evangelischen Theologen Ulrich Körtner, der von einem „nachdenklichen Atheismus mit Trauerflor“ spricht. (17)
Die Zeit des kämpferischen Atheismus ist vorbei, also die Zeit jenes Atheismus, der mit wortgewaltigen Büchern und medienwirksamen Kampagnien die Menschen davon überzeugen wollte, dass es keinen Gott gibt. Dieser Atheismus, der sich aus der Naturwissenschaft speiste, übersah, dass er mit den Mittel eben dieser Wissenschaft Gottes Nicht-Existenz nicht beweisen kann und hat damit jenes Terrain verlassen, von dem er ausgegangen ist.
Nicht alle, aber viele Philosophen und Literaten, die vom Atheismus überzeugt sind, erkennen die Leerstelle, die der fehlende Gott hinterlässt.
Warum Leerstelle?
Alles, was in Zeit und Geschichte existiert, ist nicht schlechterdings fertig. Es ist nicht das, was es ist. Denn es hat noch Zukunft vor sich. Es hat noch etwas vor sich, was es jetzt nicht ist, aber zukünftig sein wird oder sein kann.
An dieser Stelle zeigt sich eine gegenwärtige Leerstelle von allem, was jetzt ist. Und das gilt besonders für den Tod: Er ist jene Zukunft, die uns allen bevorsteht. Er ist ein Nichts, dass eben weil es ein Nichts ist, unvorstellbar ist. Das absolute Nichts ist „unausdenkbar, unanschaulich, gegenstandslos“. Und kein Gott da, der dieses Nichts füllt. Die Leerstelle bleibt leer.
Vernunft wird erst vernünftig, wo sie das Nicht-Gelingen, die Leerstelle mitdenkt: ihre Selbstüberschreitung.
Hoff, Ein anderer Atheismus, 100
Mit anderen Worten kann man sagen: Der Mensch wird erst Mensch, wenn er das Andere seiner Existenz, nämlich die Leere seiner Nicht-Existenz immer mitdenkt und ihr gewahr ist.
Nur eine Nebenbemerkung: Ich erinnere hier nochmals an meine Folge über Simone Weil: Sie hat ja von der Ausrichtung auf das Unvorstellbare gesprochen. Hier ist nun das Nichts das Unvorstellbare. Ich verlinke die Folge in den Shownotes.
Zurück zum Theologen Gregor Hoff. Er schreibt:
Religion ist nicht einfach dieses Andere, sondern bringt es vernunftbezogen zur Sprache: Hoffnung.
Hoff, Ein anderer Atheismus, 100
Wieder mit anderen Worten: Religion ist nicht die Heimat des Anderen, ist also kein Raum, in dem sich der Gläubige in der von Gott gefüllten Leere Zuhause fühlen kann. Vielmehr ist Religion ein Verweis auf Hoffnung, dass diese Leere einmal gefüllt werden wird. Die gegenwärtige Situation des Gläubigen – wie auch aller anderen Menschen – bleibt dennoch entleert.
Damit kann ich nochmals auf die letzte Folge verweisen, in der ich über den Psalm 77 gesprochen habe: In der Gegenwart bleibt der Beter in der gottverlassenen Leere. Nur der Blick in die Vergangenheit, in der er Gottes Machttaten sieht, schenken ihm die Hoffnung, dass Gott auch in Zukunft an seinem Erbarmen, d. h. an sich selbst, festhält.
Jetzt wird Gott vermisst, aber sein Kommen in Zukunft wird erhofft, weil der Blick in die Vergangenheit eine solche verheißt.
Ich habe schon in der letzten Folge anklingen lassen, dass mir sowohl der klassische Atheismus als auch der Pseudo-Mystiker allzu schnell fertig sind mit Gott. Der französische, atheistische Philosoph André Comte-Sponville fragt sich aber, ob es überhaupt noch ein Gott ist, wenn er nicht vermisst wird.
Der klassische Atheismus ist zu schnell mit Gott fertig, weil er einfach konstatiert, dass kein Gott ist. Er übersieht dabei eben die Leerstelle, das Nichts, an der jede Hoffnung scheitert. Hoffnung scheint aber etwas zu sein, was in unsere menschliche Existenz eingeschrieben ist. Dies anerkennt zum Beispiel der atheistische Philosoph Albert Camus: Er meint, da die Leere nicht von der Hoffnung des Menschen gefüllen werden kann, ist das menschliche Dasein absurd: Es strebt nach etwas, was niemals erfüllt werden wird.
Der Pseudo-Mystiker auf der anderen Seite ist aber ebenso schnell mit Gott fertig: Er predigt Gott als den allzeit nahen, den gegenwärtigen, den jeden Menschen jederzeit begleitenden. Gott ist immer schon da. Du, Mensch, du musst es nur sehen! Mach die Augen auf, dann siehst du, dass Gott immer schon da war! Eine Ansicht, die Gott handhabbar macht und den Menschen zerstört.
Gott wird handhabbar, weil er als der Allzeit-Verfügbare unfähig ist, sich zu entziehen. Nicht nur ist ein solcher Gott immer für den Menschen da, sondern der Mensch hat immer Zugriff auf Gott. Gott verliert seine Erhabenheit, seine Unverfügbarkeit, wird zum kleinen, manipulierbaren Gott, verliert mithin sein Gottsein.
Und der Mensch wird bei einer solch pseudo-mystischen Anschauung zerstört, weil die ganze Last der Hoffnungerfüllung auf seinen Schultern lastet. Gott ist schon da, der Mensch muss jetzt etwas tun, er muss seine Augen öffnen. Wenn sich der Mensch allein, verlassen, einsam fühlt, wenn er Gott vermisst, liegt es nicht an Gott, sondern einzig und allein am Menschen. Er soll gefälligst endlich die Augen öffnen, um zu sehen, dass Gott schon längst da ist. Der schon zerknirschte Mensch wird mit weiterer Last belegt, da er unfähig scheint, Gott wahrzunehmen.
Nein, einen solchen Gott, einen kleinen Gott, der die ganze Last der Fülle den Menschen auflastet braucht niemand. Ebenso existenzmindernd ist die Leugung der Leere, in die die menschliche Existenz hineingehalten ist. Eine solche Leugnung sehen wir bei jenen Menschen, die in ihrem Leben von Erlebnis zu Erlebnis hetzen, wobei das nachfolgende Erlebnis gesteigerter sein muss als das vorhergehende.
So ist die eigentliche Haltung, die Haltung, die das Leben und die Leere ernst nimmt, jene zwischen Glaube und Unglaube, zwischen der Bejahung und der Verneinung Gottes. Die eigentliche Haltung sollte eine der Ambivalenz sein, der Ungewissheit, des Aushaltens dieser Unsicherheit. Da mag dann der eine mehr in Richtung Hoffnung, der andere mehr in Richtung Hoffnungslosigkeit und Absurdität neigen. Das sind dann nur kleine Spielarten derselben offenen Haltung zu dem, was kommen mag. Mit beiden lässt sich leben: mit der Hoffnung und mit der Hoffnungslosigkeit.
Schauen wir nochmals auf den jüdisch-christlichen Glauben, schauen wir nochmals auf Psalm 77: Der Beter des Psalms hält die gegenwärtige Leere aus und tendiert zur Hoffnung auf das Kommen Gottes in Zukunft.
Der evangelische Theologe Jürgen Moltmann weist darauf hin, dass wir nicht von Gottes Kommen sprechen können, wenn wir davon ausgehen, dass Gott schon da ist, also in unserer Nähe ist. Für Moltmann ist die Nähe Gottes nichts, was in unserer Gegenwart stattfindet, sondern was für die Zukunft verheißen ist. Genau das bringt der Psalm 77 zum Ausdruck.
Und genau das ist es, was die Bibel als Bibel zum Ausdruck bringt. Und ich meine damit nicht, was die Bibel im konkreten schreibt, sondern dass ein solches Buch überhaupt existiert. Wenn wir uns fragen, wie kommt es von der Mündlichkeit der Überlieferung zur fixierten, kanonisierten Schriftlichkeit, so entdecken wir meist Krisensituationen, in denen die Textproduktion stark zugenommen hat bzw. von entscheidender Bedeuntung war. Dies wird sogar in manchen Texten der Bibel reflektiert.
Eine der wohl einschneidensten Krisen für das Volk Israel war das so genannte Babylonische Exil im 6. Jh. v. Chr. In dieser Zeit eroberte der babylonische König Nebukadnezar II. das Gebiet Israel: Viele Juden mussten auswandern. Ungefähr 60 Jahre später wurde diese Besetzung durch den Perserkönig Kyros II. beendet.
Diese Exilszeit und die Zeit danach waren eine Periode großer Textproduktion, die der Selbstvergewisserung der eigenen Verortung in der Welt dienen sollte. Die Frage war: Wer sind wir – das Volk Israel – und wer ist Gott angesichts dieses Leidens und dieser Verfolgung? In einer Situation des Gottvermissens scheint ein Blick zurück in die Vergangenheit und die Erinnerung an Gottes Heilstaten zu helfen, um für die Zukunft zu hoffen, dass jede Leidenssituation auch einmal ein Ende haben wird.
Erinnert uns das nicht an die Vorgehensweise im Psalm 77?
In Krisenzeiten neigt der biblische Mensch dazu, in die Vergangenheit zu schauen, um neue Hoffnung für die Zukunft zu gewinnen. Kennen wir das nicht aus unserem eigene Leben: Je öfter wir erleben, dass wir wieder gut aus unseren eigenen Krisen hervorgehen, desto zuversichtlicher macht uns das für die gegenwärtige Krise.
In einer Zeit des Gottvermissens braucht es also immer wieder die Vergewisserung an der Vergangenheit. So auch im Neuen Testament. Jesus ist ja nach seinem Tod nicht geblieben, sondern hat uns verlassen. Die ersten Jesus-Anhänger:innen haben noch mit seiner baldigen Wiederkunft gerechnet. Aber die Zeit ist immer länger geworden. Die erste Generation ist ausgestorben und von Christus war weit und breit nichts zu sehen. Soll man die Hoffnung aufgeben?
Die Autoren des Neuen Testamentes haben versucht dagegenzusteuern. Diese Krise braucht eine Vergewisserung, die auf die Vergangenheit blickt:
So schreibt etwa Lukas am Anfang seines Evangeliums über den Grund der Abfassung, dass sich Theophilus, der Empfänger des Schreibens, „von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen“ (Lk 1,4) kann. Sind hier Zweifel aufgetreten? Sollten diese Zweifel durch die Abfassung der Ereignisse, „die sich unter uns erfüllt haben“ (Lk 1,1), beseitigt werden?
Je länger das Jesus-Ereignis zurückliegt, desto unsicherer werden die Gläubigen. Es braucht eine Selbstvergewisserung. Vor allem dann, wenn die neue Generation Jesus selbst nicht mehr persönlich erlebt hat. Das thematisiert der erste Petrusbrief. Dort heißt es:
Ihn habt ihr nicht gesehen und dennoch liebt ihr ihn; ihr seht ihn auch jetzt nicht; aber ihr glaubt an ihn und jubelt in unaussprechlicher und von Herrlichkeit erfüllter Freude, da ihr das Ziel eures Glaubens empfangen werdet: eure Rettung.
1. Petrusbrief, Kapitel 1, Verse 8f.
Der Brief wendet sich an Christen, die als Übeltäter verleumdet und von den kaiserlichen Behörden verfolgt wurden. Sie hatten also viel zu leiden.
Für die Christen dieser Gemeinde war Jesus immer schon der Abwesende. Sie kamen erst nach dem Tod Jesu zum Glauben. Und sie nahmen den Glauben an, nicht weil sie Jesus selbst gesehen und mit ihm gelebt hatten, sondern weil sie den Augenzeugen, die von vergangenen Ereignissen berichtet hatten, vertrauten. Voll Freude nahmen sie den Glauben an einen abwesenden Retter an, der versprochen hatte, in der Zukunft rettend einzugreifen. Jetzt, in der Leidensituation, wird jedoch die Hoffnung auf das Rettungshandeln immer dringender. Jesus wird immer mehr vermisst. Wo bleibt die versprochene Rettung?
Wie der erste Petrusbrief konkret mit dieser Frage umgeht, könnt ihr selbst nachlesen. Zusammenfassend möchte ich sagen: Er verarbeitet die Abwesenheit und das Vermissen Jesu und damit der Rettung einerseits mit dem Blick in die Vergangenheit und andererseits mit klaren Vorgaben, die das Handeln und den Lebenswandel der Christen leiten sollen.
In diesem Sinn schreibt der Gregor Maria Hoff:
Die Gegenwart Jesu bleibt nur in der Distanz zu ihr erhalten. Sie aktualisiert sich in der Imitatio Christi, in der Nachahmung des nicht mehr gegebenen, des entzogenen Originals. Man muss die Evangelien vor diesem Hintergrund auch so lesen, dass sie das Vermissen Jesu bearbeiten. Er fehlt, er ist ‚von ihnen gegangen‘, wie es in der Entrückungsszene der Apostelgeschichte heißt (Apg 1,11).
Hoff, Ein anderer Atheismus, 131f.
Falls ihr jetzt gerade bewusst auf Ostern zugeht, schlage ich vor, dass ihr euch diesmal mehr auf den Karfreitag und noch mehr auf den Karsamstag einlässt. Der Karsamstag ist die Feier der Leerstelle, der uns der abwesende Gott hinterlässt. Der Karsamstag lässt offen, ob es noch Hoffnung geben kann oder nicht. Er hält die Ambivalenz aus, die diese Offenheit mit sich bringt.
Der Karsamstag ist die Feier unserer Gegenwart. Und lassen wir uns in diesem Jahr ausnahmsweise einmal nicht vom „Halleluja, Jesus lebt“ anstecken, sondern versuchen wir, den Karsamstag in unser Leben über den Ostersonntag hinaus weiterzutragen.