Karlheinz Six

Die unmittelbare Gegenwart

BIld: Die unmittelbare Gegenwart

Nochmals präsentiere ich einen Teil eines Skriptums zu „Sozialphilosophie und Soziologie“. Diesmal geht es um Kennzeichen unserer Gegenwart.

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Die unmittelbare Gegenwart

In den konkreten Debatte unserer unmittelbaren Gegenwart spiegeln sich diese Spannungen wider. So wollen verschiedene Zugänge auf vielfältige Formen von Diskriminierung aufmerksam machen. Die Debatte um „kulturelle Aneignung“ will auf globale Ungleichheiten der Kulturen aufmerksam machen. Auf christlicher Seite tut dies die Befreiungstheologie.

Der intersektionale Feminismus spricht von mehreren sozialen Identitäten, die sich in einzelnen Personen überschneiden, und zu je unterschiedlichen Formen von Diskriminierung führen. Eine schwarze Frau erfährt andere Diskriminierungen, wie eine weiße Frau; eine weiße, reiche Frau, andere wie eine weiße, arme Frau; eine schwarze Frau andere wie ein schwarzer Mann usw.

Aus diesen vielfältigen Erfahrungen entstand unter afroamerikanischen Menschen die „Wokeness“-Bewegung. „Woke“ für „erwacht“. Es geht um das Bewusstsein und die Wachsamkeit für Diskriminierung, Ungleichheiten und die Notwendigkeit, diese zu bekämpfen. Allerdings wird heute von der politisch Rechten das Wort „woke“ negativ und abwertend benutzt. Man stellt sich mit dem Argument dagegen, dass die Woke-Bewegung Freiheit einschränken, den Menschen Sprechen und Leben vorschreiben will und die traditionellen Werte abschaffen möchte, deren Erhalt aber den Rechten wichtig sind.

Identitätspolitik könnte ein Abhilfe gegen Diskriminierung, sie aber auch befeuern. Diese Art der Politik identifiziert soziale Gruppen, die sie mit gezielten Maßnahmen adressiert. So kann Diskriminierung gezielt entgegengewirkt werden. Es ist aber auch möglich, dass durch die Identifizierung sozialer Gruppen diese erst recht benachteiligt werden. Daher ist Identitätspolitik umstritten.

Diese aufgeheizte Debatte entzündet sich vor allen an den Themen Gender und Familie. Philosophinnen wie Judith Butler meinen, dass Geschlecht keine biologische Vorgabe ist, sondern sozial konstruiert wird. Innerhalb dieses konstruierten Rahmens haben dann die einzelnen Menschen die Möglichkeit, sich ihr Geschlecht zu wählen. Demnach gebe es also mehr als zwei Geschlechter (manche sprechen von 60), die durch eine gendergerechte Sprache nicht diskriminiert werden sollen. Die politische Rechte tritt hingegen gegen die Abschaffung der biologischen Geschlechter auf, wie sie es nennen.

In unserer Gegenwart ist man schon einiges vom traditionellen Familienbild abgerückt. Es ist aber immer noch ein leitendes Motiv unserer Gesellschaft. Unverheiratete Eltern, homosexuelle Eltern oder Patchworkfamilien prägen unsere Zeit. Aber immer noch sind es zwei Erwachsene, die „ihre“ Kinder erziehen und mit ihnen zusammenleben.

Die Zukunft kündigt sich schon an: Co-Parenting ist das gemeinsame Erziehen von Kindern durch Erwachsene, die keine sexuelle Beziehung haben. Lesbische Paare holen sich einen Mann in die Erziehung herein, damit die Kinder sowohl von Frauen als auch von Männern erzogen werden. Oder: Kinder werden zwar von einer Frau geboren; diese lebt aber in einer WG oder im Co-Housing, in dem alle Erwachsenen alle Kinder erziehen. Wie das Dorf, das es angeblich braucht, um ein Kind zu erziehen.

Die Familie wird sich in Zukunft immer stärker verändern, wie sich auch Formen von Partnerschaften verändern werden. Die klassische Familie ist damit nicht mehr Keimzelle der Gesellschaft, die kleinste soziale Einheit. Die Betonung des Individuums führt zur Auflösung festgesetzter sozialer Formen, auch der Familie. Das sind die Folgen eines Denkens wie von Hobbes und Locke, die Gesellschaft von Individuum aus denken.

Dagegen treten wieder die Vertreter traditioneller Werte auf. So hypen z. B. derzeit die TradWifes, Influencerinnen, die in den Sozialen Medien ihr perfektes Leben perfekt gestylt und traditionell lebend darstellen. Als Frauen sind sie natürlich zu Hause, kümmern sich um Kinder und Haushalt, während der Ehemann das Geld nach Hause bringt. Nein, sie machen mit ihrem perfekt gestylten Lächeln noch mehr: sie backen, dekorieren, reparieren und renovieren das Haus, arbeiten im Garten, beteiligen sich an Schulprojekten, organisieren Familienfeiern, kümmern sich um Katze, Hund und Hamster und leisten Freiwilligenarbeit. Und das natürlich nicht im Schlabber-Look und alter Jogging-Hose.

Egal um welche Gruppen und um welchen Lebensbereich es heute geht: Selbstbestimmung ist das große Wort und der große Wert. Alles – buchstäblich alles – muss der Selbstbestimmung unterworfen werden. Der heutige Mensch scheint keine Vorgaben mehr akzeptieren zu wollen – außer vielleicht noch das Gefühl. Aber wenn das nicht passt, muss es passend gemacht werden – mit Meditation, Manifestieren oder Mentaltraining.

Jede Vorgabe muss vom Menschen umgestaltet und verändert werden. Wir wollen uns nicht mehr anpassen, sondern alles nach unseren Vorstellungen transformieren. Die Last, die den Menschen damit von klein auf aufgelastet wird, wird übersehen – bzw. äußert sich in Burnouts, Boreouts und Depressionen, in Suizidalität, Schlaflosigkeit und Suchtverhalten. Ein lukratives Geschäft für Coaches, die den Menschen wieder ins Hamsterrad der Selbstbestimmung begleiten.

Das wird vor allem am menschlichen Körper deutlich. Bevor aber darüber zu sprechen sein wird, sollen drei weitere Kennzeichen unserer unmittelbaren Gegenwart genannt werden:

  • Trennung von Sinn und Funktion: Der Mensch sieht sich nicht mehr eingebettet in einen ordnenden Kosmos. Er verliert den Sinn des Lebens und muss sich auf die Suche nach ihm machen. Das große Narrativ unserer Zeit: Jeder muss selbst bestimmen, was der Sinn ist. Er wird individualisiert und daher kann er nicht mehr als Kategorie des Zusammenlebens gelten.
    Für das Zusammenleben gilt daher nur noch die „Funktion“ als zentraler Begriff. Funktion: etwas ist für etwas anders da; etwas hat seinen Zweck für etwas anderes. Nur so kann das System funktionieren (siehe Systemtheorie). Der Mensch muss funktionieren, er muss seine Funktion erfüllen, damit das ganze System funktioniert. Der Mensch als Zweck an sich selbst gilt nichts. Er muss sich einfügen in das Ganze. Es klingt wie die Rückkehr der großen Ordnung, die aber jetzt eine rein vom Menschen geschaffene ist und der der Sinn des Ganzen und der Elemente abhanden gekommen ist.
    Einige Beispiele:

      • Der Papst ist nicht mehr Stellvertreter Christi (Sinn), sondern Leiter der Kirche (Funktion). Daher war P. Johannes Paul II. dem Sinn nach Papst und blieb es auch dann, als er aufgrund seiner Krankheit seine Funktion nicht mehr ausüben konnte. Und P. Benedikt XVI. war Papst der Funktion nach, der sein Amt aufgab, als er körperlich zu schwach wurde, die Kirche zu leiten.

      • Viele Menschen achten auf Ernährung und Bewegung, nicht weil es Freude macht (Sinn), sondern damit sie gesund bleiben wollen (Funktion).

      • Google stellt den Mitarbeiter:innen umfassende Gesundheitsleistungen und Sporteinrichtungen zur Verfügung, nicht weil sie die Mitarbeiterinnen als Menschen sehen (Sinn), sondern weil die Mitarbeiterinnen dann effizienter arbeiten (Funktion).

      • In psychologischen Analysen von Menschen oder menschlichen Systemen steht immer wieder die Funktion von Handlungen, Verhaltensweisen und Glaubenssätzen im Vordergrund. Die Psychologie enthält sich konsequent der Sinnfrage bzw. entschlüsselt sie Sinn als Funktion. Fragen der Ethik oder nach dem Menschen werden ausgeklammert und dennoch immer wieder vorausgesetzt.

      • Bei FuckUp-Nights präsentieren Unternehmer ihr Scheitern – und was sie daraus gelernt haben. Scheitern hat nur Platz, wenn man danach erfolgreicher ist – wie die Heldengeschichten eben so erzählen. Das Scheitern, bei dem die Menschen jeglichen Sinn verlieren, hat da keinen Platz. Scheitern wird funktionalisiert Teil des Erfolges.

  • Quantifizierung aller Lebensbereiche: Unter Quantifizierung versteht man den Vorgang, wenn Wirklichkeitsbereiche in Zahlen umgewandelt werden. So funktioniert unsere Gesellschaft im Warenaustausch nur noch durch Vermittlung von Zahlen, die auf Geld gedruckt werden. Jede Ware – dazu zählen auch Dienstleistungen – wird in Zahlen umgewandelt und diese Zahlen werden wieder in Waren verwandelt.
    Kennzeichen unserer Zeit ist, dass immer mehr Bereiche dieser Logik der Zahlenverwandlung folgt:

      • Im politischen Handeln lässt man sich immer mehr von Umfragen leiten, weniger von der eigene Werthaltung. Auch spielen Zahlen in allen Politikbereichen eine Rolle. Finanzen, Migranten, Fachkräfte, Schülerzahlen usw. Immer geht es um Zahlen.

      • Auch in der Psychologie und im Beratungssektor nehmen Studien – in Zahlen gegossene Wirklichkeitserschließung – immer größeren Platz ein.

      • In der Medizin enden Untersuchungen in einer Reihe von Zahlenwerten, an denen die Gesundheit eines Menschen abgelesen wird. Auch wenn der Mensch sich irgend wie nicht normal fühlt: Die Werte sagen, es ist alles in Ordnung.

      • Aber auch im Alltag beobachten die Menschen sich selbst durch Zahlen vermittelt: Sie zählen Kalorien, Schritte und tragen Wearables, die ihnen die Herz- und Atmungsfrequenz und andere medizinische Zahlendaten liefern.

      • Die Sozialen Medien werden von Algorithmen – komplizierten Zahlenverhältnissen – gesteuert. Ein unsichtbarer Zahlenaustausch, der Videos und Bilder sichtbar macht.

      • Auch in den Kirchen und Religionen werden Zahlen immer wichtiger: Wie viele Austritte, wie viele Taufen, wie viele Gottesdienstbesucher? Welche Religion wird größer, welcher kleiner, welche bald verschwinden?

    Heute leben wir im Glauben, dass Lebensqualität sich in Zahlen verwandeln lässt, dass sie sich quantifizieren lässt. Und wenn auch nur die Zahlen passen, dann passt auch die Lebensqualität.

  • Verkörperung: Ein letztes Kennzeichen unserer unmittelbaren Gegenwart ist die Zentralstellung des Körpers. Menschen denken sich als Körper. Nur als Körper ist der Mensch in Zahlen zu verwandeln.
    Dabei gibt es im Deutschen die Wörter „Körper“ und „Leib“, die wir im Alltag gleichbedeutend verwenden. Ursprünglich ist aber der Körper die tote Dimension am Menschen (corpus = lat. Leichnam; corps = engl. Leiche). Der Körper ist heute der biologisch funktionierende (!), objektivierbare Aspekt des Menschen, im Gegensatz zum Leib, der die Erfahrung des In-der-Welt-Seins und des Interagierens mit dem Außen ist.

    Versteht sich der Mensch als Körper, so versteht er sich als tote Masse, die funktionieren muss. Ein paar Beispiele:

      • Die Psychologie hat es längst aufgegeben, an eine Seele (griech. psyché) zu denken. Psychische Vorgänge werden heute als körperliche beschrieben. Daher ist es heute unumgänglich, dass jede Psychologie sich letztlich in der Neurologie verankert. Es gibt heute keine psychologische Fortbildung mehr, die nicht irgendwann auf das Gehirn zu sprechen kommt.

      • An anderer Stelle schaut die Psychologie nur noch auf das beobachtbare Verhalten von Menschen. Verhalten ist aber immer Agieren eines Körpers.

      • In den Sozialen Medien stehen ebenso abgebildete Körper im Mittelpunkt. Vor allen in Dating-Apps wird zuerst nach dem Körper geschaut, also auf die Fotos. Erst dann werden andere Identitätsmerkmale wie Altern, Interessen, Beruf usw. interessant.

      • Unser Gesundheitsstreben geht weitgehend über den Körper. Psychische Gesundheit und Ausgeglichenheit wird über den Körper zu erreichen versucht. Nicht nur im Fitness- und Ernährungsbereich, sondern z. B. auch bei Meditationen, in denen man eine bestimmte Körperhaltung einnehmen und Atemtechniken durchführen muss.


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