Vom Menschen als vernunftbegabtem Wesen der Aufklärung, das Einheit und Fortschritt versprach, führt die Entwicklung zum heutigen Bild: Vernunft gilt als brüchig, Einheit ist verloren, und inmitten von Pluralität muss jeder sein gutes Leben selbst entwerfen. Gefühle stehen im Zentrum.
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Der Mensch will einen Unterschied machen
Der Mensch möchte einen Unterschied machen. Der Mensch möchte wissen, worin er sich von anderem unterscheidet. So fragt er nicht nach den Gemeinsamkeiten, sondern nach dem Trennenden. Dieses Anliegen verpackt sich in der Frage: Was ist der Mensch?
Das Was – oder wie es die Philosophie auch nennt: das Wesen – umfasst also nicht das Gemeinsame mit anderen, sondern das Trennende – oder mit einem anderen Wort: das Spezifische.
Vorn alters her wurde diese Frage beantwortet, indem die Vernunft als das Spezifische gegolten hat. Die Vernunft soll es sein, die nur dem Menschen zukommt und damit die Frage „Was ist der Mensch?“ beantwortet: Er ist ein vernunftbegabtes Wesen.
Solange die Religion in der Gesellschaft eine bedeutende Rolle gespielt hat, sah man die Vernunft als eine gebrochene, beschränkte – in religiöser Sprache: sündige – Fähigkeit des Menschen. Die Aufklärung, die spätestens versuchte, der Religion Grenzen zu setzen oder sich gegen Religion wandte, stellte die Vernunft an die oberste Stelle. Damit wurden zwei weitere Kategorien von Bedeutung, die mit der Vernunft mitgesetzt wurden: die Einheit und der Fortschritt.
Der Glaube an die Einheit der Vernunft und der Welt, die die Vernunft betrachtet, lag schon in der Religion vor, jedoch garantiert durch einen Gott. Die beschränkte Vernunft konnte diese Einheit jedoch nur beschränkt erkennen und verwirklichen. So bliebt die Welt für den Menschen immer plural. Jetzt – spätestens seit der Aufklärung – wird die Vernunft zur Garantin von Einheit.
Auch der Glaube an den Fortschritt ist der christlichen Religion immanent. Jedoch geht es um den Fortschritt der Gotteserkenntnis und dem Fortschritt einer gottgewollten Lebensordnung. Jetzt – spätestens seit der Aufklärung – geht es um die Erkenntnis einer Welt, die ohne religiöse Kategorien auskommt, und um eine Weltordnung, die aus der Vernunft begründet ist.
Auch in den nachfolgenden Jahrhunderten, der so genannten Moderne hielt man an diesem Vernunftversprechen nach Einheit und Fortschritt fest. Spätestens in der Mitte des 20. Jahrhunderts zerbrach diese Idee. Zahlreiche Ereignisse, die hier nicht angeführt werden müssen, ließen Zweifel aufkommen, ob der Mensch wirklich fähig ist, einen Fortschritt im Sinn einer Verwirklichung des guten Lebens zustande zu bringen, wenn er mit Berufung auf Vernunft Kriege führt, Menschen ausbeutet, die Natur als Lebensgrundlage des Menschen zerstört und alles nur für den Profit und das gute, reiche Leben weniger. Gerade heute sprechen wir wieder davon, wie unzuverlässig die Vernunft des Menschen sein kann. Sie wird nämlich heute nicht mehr als das der Welt hin offene und wahrnehmende „Organ“ gesehen, sondern als instrumentelles und konstruierdendes, also als „Organ“, mit dem der Mensch die Welt nicht einfach betrachtet, sondern konstruiert und für dich nutzbar macht.
Gleichzeitig hat damit die Vernunft auch den Charakter der Einheit verloren. Das Gesellschaftsganze macht den Individuen keine Vorgaben mehr, was es gutes Leben sein soll. Es legt diese Frage ins Individuum selbst und lässt es damit allein, mit dem Hinweis auf Toleranz aller Lebensentwürfe gegenüber. Was zählt ist nicht mehr Einheit, sondern Vielheit, Pluralität. Das Leben – auch des Einzelnen – fragmentiert sich und kann zu keiner Einheit mehr finden. Das Individuum muss sich seine Vorstellung vom guten Leben selbst zusammenbasteln, Widersprüche inklusive. Denn ein einheitliches, konsistentes Denken ist nicht mehr erforderlich.
Heute nehme ich vor allem drei Tendenzen wahr: …
Aber diese sollen ein ander Mal dargestellt werden. An dieser stelle nur eine kurze Zusammenfassung:
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Reaktionäre Strömungen: Manche Bewegungen wenden sich gegen die Moderne, indem sie alte Ordnungen und Traditionen wiederbeleben wollen. Sie suchen Sicherheit in festen Strukturen, die sich nach dem Ende des Vernunftglaubes aufgelöst haben.
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Unwissenschaftliche Denkweise: In vielen Bereichen zeigt sich eine Abkehr vom streng rationalen, wissenschaftlichen Denken. Stattdessen gewinnen spekulative oder esoterische Weltbilder an Bedeutung, die nicht überprüfbar sind.
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Betonung des Gefühls: Gefühle und Intuition werden zunehmend wichtiger als Grundlage für Entscheidungen und Lebensführung. Sie treten an die Stelle der Vernunft, die als kalt und unzuverlässig empfunden wird.