In der christlichen Theologie stehen sich zwei Auffassungen über die Liebe Gottes gegenüber, die nicht so leicht zu vereinbaren sind. Sie lassen sich auf die zwei Schlagworte bringen: „Gott liebt alles Menschen“ und „Gott steht an der Seite der Armen und Unterdrückten“.
Es steht also die universale Liebe Gottes seiner Parteinahme für bestimmte Gruppen gegenüber.
Um diese Gegenüberstellung aber richtig zu begreifen, müssen wir sehen, dass hier auf derselben Ebene gesprochen wird. Denn man könnte dem Trugschluss erliegen, es würde auf zwei verschiedenen Ebenen gesprochen; die Liebe sei ein Gefühl und die Parteinahme ein handelndes Eingreifen Gottes. So könnte man auf die Idee kommen, die beiden Sätze so in Übereinstimmung zu bringen, dass man Gott das Gefühl der Liebe zu allen Menschen, aber sein handelndes Eingreifen nur für bestimmte Gruppen annimmt.
Es gilt aber: Liebe und Parteinahme spielen sich auf derselben Ebene ab, nämlich auf der Handlungsebene. Auch die Liebe bedeutet im biblischen Verständnis handelndes Eingreifen Gottes. Mit anderen Worten: Hier stehen sich universale und partikulare Liebe gegenüber, eine Eingreifen Gottes zugunsten aller oder nur mancher Menschen.
Die universale Liebe Gottes findet seine Begründung in verschiedenen Glaubensaspekten: Als Schöpfer ist Gott allen Menschen zugewandt. Schon im Alten Testament zeigt sich die Grundintention, dass der Gott JHWH nicht nur ein Volksgott, sondern der oberste bzw. der alleinige Gott aller Menschen ist. Dies endet in der Vision, dass am Ende der Zeit alle Völker zum Berg des Herrn pilgern werden.
In Jesus wurde Gott Mensch, um alle Menschen, nicht nur bestimmte zu erlösen. Daraus ergibt sich dann auch das vierfache Liebesgebot der Gottesliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe und Feindesliebe; eine vierfache Entfaltung der universalen Liebe zu allen Menschen.
Im 20. Jahrhundert wurde dem gegenüber für allem von der Befreiungstheologie und der neuen Politischen Theologie die Parteilichkeit Gottes stark gemacht. Oft bezieht man sich in diesem Kontext zunächst auf die Exodus-Geschichte: Gott ergreift Partei für sein Volk Israel gegen das andere Volk der Ägypter. Er ergreift so sehr Partei, dass er die einen rettet, die anderen aber quält und tötet. Auch die Besetzung des Gelobten Landes erfolgt unter kriegerischen Einsatz.
Und mit dieser parteilichen Brille versteht man nun auch das Handeln Jesu: Er stehe ganz an der Seite der Armen und Ausgebeuteten, klagt in heftigen Reden die Ausbeuter an und heilt die Siechenden. Er quäle und töte zwar seine Gegner, die jüdische Elite und die Reichen nicht, doch droht er ihnen Höllenstrafen, Heulen und Zähneknirschen an, also jenseitige Qualen.
Eine interessante Stellung nimmt dabei der Satz „Gott ist Liebe“ aus dem ersten Johannesbrief ein: Wer den Brief genau liest, wird merken, dass hier nur von einer partikularen Liebe gesprochen wird. Interpretiert wird er aber immer im Sinn einer universalen Liebe.
Vielleicht erscheint Ihnen eine partikulare Liebe Gottes als anstößig und als Skandal. Vergessen Sie dabei aber nicht, dass auch die universale Liebe ein Skandal ist. Denn sie sagt nichts geringeres, dass Gott sich für das Opfer wie für den Täter einsetzt, für die vergewaltigte Frau wie für den Vergewaltiger, für den unterbezahlten Fabriksarbeiter in den Slums wie für den Reichtum anhäufenden Fabriksbesitzer hinter den dicken Mauern seiner Residenz, für die hungernden Kinder wie für jene, deren Bäuche immer fetter werden, weil sie mehr Essen als sie bräuchten.
Aber ja: Auch die partikulare Liebe Gottes ist ein Skandal. Selbst dann, wenn man die Qualen, die den Gegnern angedroht und an ihnen durchgeführt werden einmal wegstreicht. Selbst dann bleibt sie ein Skandal. Gott steht dann nämlich nicht mehr auf meiner Seite:
Er steht dann auf der Seite der Näherinnen in Bagladesch, die unter miesesten Arbeitsbedingungen für kleines Geld zu wenig zum Leben verdienen. Er steht aber nicht auf meiner Seite, der ich die Billigware, die diese Näherinnen produzieren kauft.
Er steht auf der Seite der Kinder an der Küste Afrikas, die unter gefährlichen Bedindungen die Computer ausschlachten, die von den reichen Ländern dorthin geworfen werden. Er steht aber nicht auf meiner Seite, der ich regelmäßig neue Geräte kaufe und wieder wegwerfe.
Er steht auf der Seite vieler flüchtender Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Hunger ihre Hoffnung in einem anderen Land wähnen. Er steht aber nicht auf meiner Seite – nicht weil ich am Krieg direkt beteiligt bin, sondern einfach deshalb, weil ich ohnehin in Sicherheit lebe.
Aber wenn dieser Gott seine Liebe, seine exklusive Liebe diesen Geringsten zuwendet, dann wendet er sie nicht mir zu. Er steht nicht auf meiner Seite. Ich gehöre zu den Privelgierten. Ich werde so schnell nicht arm und hungern. Ich lebe in einem der reichsten und sichersten Länder dieser Erde.
Ja, ich lebe in einem Land, dessen Reichtum unter anderem auf der Ausbeutung anderer basiert. Mein sicheres und privilligiertes Leben basiert auf dem Leiden so vieler anderer Menschen. Und ich bin unfähig, machtlos, dieses System, in dem auch ich gefangen bin, zu brechen. Und in dieser Hilflosigkeit bleibt mir nur noch die verzweifelte Hoffnung, dass es einen Gott gibt, der das, was ich in dieser Welt an Leiden produziere, wieder ausgleicht. Ein Gott, der nicht mich liebt, sondern jene, die durch mich leiden. Ein Gott, der diese Leiden selbst durchlitten hat und sich auf einzigartige Weise solidarisch mit den Leidenden zeigt.
Und selbst in dieser verzweifelten Hoffnung erkenne ich nochmals meine eigene Heuchelei: Denn darin verbirgt sich noch ganz tief der Wunsch, doch noch irgendwie zu den Guten zu gehören.


