Afrikanischer Jesus - Diakon Karlheinz Six

Karlheinz Six

It’s fucking night

Titelbild: It's fucking night

Klagenfurter Hauptbahnhof - Reise Richtung Ancona

Klagenfurt. Hauptbahnhof. 7. August. Ca. 23 Uhr. Unsere Tochter hat uns abgesetzt. Wir warten auf den Zug. Es ist kalt. Im August. Meine Frau macht sich Sorgen, dass es auch im Liegewagen zu kalt wird. Sie verkühlt sich leicht.

Zwischendurch unkt sie, dass der Zug Verspätung hat. Dafür gibt es keine Anzeichen. Eine halbe Stunde später fährt er ein. Mit zwei Minuten Verspätung.

Wir steigen ein. Ein Mann kommt uns entgegen. Es wird umständlich.

Unser Abteil ist schnell gefunden. Ich schiebe die Tür auf die Seite und lasse meiner Frau den Vortritt. Ich habe Liegeplätze für unten oder Mitte bestellt. Wir liegen ganz oben.

Wir bemühen uns hinauf zu steigen. Hieven uns und unser Gepäck nach oben, während Mitte rechts ein Mädchen um die zehn Jahre ständig herumbrabbelt. Und unbestimmte Töne macht. Derweil kommt schon der Zugbegleiter und redet uns auf Englisch an. Er fragt nach der Fahrkarte. Wir reden Deutsch weiter. Ob wir Kaffee oder Tee zum Frühstück haben wollen. Er bringt noch eine Decke für meine Frau. Das Mädchen brabbelt und macht Töne.

Was ist los mir ihr? Ich ignoriere es.

Das Gepäck muss verstaut werden. Das Leintuch ausgebreitet, während ich auf der Liegefläche sitze. Das Mädchen brabbelt. Mitte links ist frei. Da fehlt noch jemand. Ich lege mich hin. Nehme meinen Kopfhörer heraus. Stelle einen Podcast ein. Mit historischen Verbrechen über die deutsche Kolonialzeit in Afrika lasse ich mich berieseln.

Die Tür geht auf. Der Mann, der uns vorhin im Weg gestanden ist, tritt ein. Mit einer Zigarettenfahne. Und legt sich Mitte links. Das Mädchen brabbelt vor sich hin.

Nachdem meine Frau ihr Bett gerichtet hat, schaltet sie das Licht aus. Schlafenszeit während Podcast-Hören.

Hab ich schon gesagt, dass das Mädchen ständig vor sich hinbrabbelt?

Das Brabbeln dringt weiter an mein Ohr. Ich verstehe nichts. Es gibt auch nichts zu verstehen. Nächster Podcast. Ein kritischer Blick auf das Konzept Ehe. Bald feiern meine Frau und ich unseren 25. Hochzeitstag. Haben wir unsere Leben auf das falsche Konzept gebaut?

Das Mädchen brabbelt weiter. Es lenkt mich vom Einschlafen ab.

Was hat es eigentlich?

Spinnt es?

Ist es zurückgeblieben? Dann ärgere ich mich, dass ich in solchen Begriffen denke. Wenn ich eine Geschichte darüber schreibe, muss ich andere Worte nehmen.

Hat es ADHS? Oder eine andere Störung?

Ist es einfach aufgeregt?

Oder hat es Angst und will so die bösen Geister vertreiben?

Oder ist ihm einfach langweilig? So um ein Uhr früh?

Die Eltern schreiten nicht ein. Naja. Klar, bei solchen Eltern kann das Kind machen, was es will. Die Eltern müssten schon …

„Hey, shut up. It’s fucking night.“ schreit es von unten links. Wobei ich zuerst gedacht habe, es wäre Mitte links. Denn das ist der Vater. Das habe ich mittlerweile mitbekommen. Das Mädchen brabbelt einfach weiter.

Laut Fahrplan längerer Aufenthalt in Villach.

Ich wache auf. Der Zug steht. Das Mädchen brabbelt. Ich schaue aufs Handy. Es ist halb drei. Warum stehen wir? Wo stehen wir? Ah, Tarvis. Wieso stehen wir? Wir sollten vor einer Stunde in Tarvis abgefahren sein.

Podcasts sind aus. Ich höre dem Mädchen zu. Es tut so, als ob es telefonieren würde. Sagt „Hallo?“. Gibt ein paar übliche Telefonphrasen wieder, die dann in Laute übergehen. Die andere Seite kommt gar nicht zu Wort. „Tschüß. Pfiati.“ Aufgelegt. Und so geht’s die ganze Zeit.

Aha. Das Kind spricht deutsch. Der englische Rufer ist also nicht der Dad.

Es brabbelt weiter.

Nächster Podcast über Auszeit und Pausemachen. Ja, eine Pause wäre jetzt angesagt. Einfach eine Brabbel-Pause. Mund zu. Zumindest so lange, bis ich eingeschlafen bin.

Bisher habe ich immer geglaubt, dass es keine schlimmen Kinder gibt. Also Kinder, die ohne Grund einfach lästig sind. Dieser Glaube wird jetzt ziemlich erschüttert. Ich zweifle an meiner psychosozialen Kompetenz.

Soll ich dem Kind was sagen?

Wie?

Was?

Wie kann ich es zur Kooperation bringen?

Es soll einfach mal den Mund halten.

Klappe zu. Und dann ist gut.

Aber wie sag ich das so, dass es funktioniert.

Mein englischer Freund hat ja vorgezeigt, dass es mit Schreien und Schimpfen nicht funktioniert.

Jetzt kommt die Mutter unten rechts in Spiel. Tatsächlich. Das Mädchen wird ruhig.

Um drei Uhr fährt der Zug weiter. Mit eineinhalb Stunden Verspätung. Ich freue mich. Dank Fahrgastrechte. Ich bekomme Geld zurück.

Während das Mädchen wieder weiterbrabbelt, schlummere ich beim nächsten Podcast über die Auslöschung einer ganzen Familie in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts ein.

Um halb sechs wache ich auf. Das Mädchen brabbelt. Der Vater steht auf und fummelt auf dem Sack voller Aludosen herum. Aja. Säufer. Alles klar.

Nächster Podcast zum Thema „Das Leben ist kein Ponyhof“.

Wir erreichen pünktlich Bologna. Wie geht das jetzt? Verstehe ich nicht. Doch kein Geld zurück.

Die Familie steigt in Rimini aus.

Juhuu! Juhuu!

Dann ist endlich Ruh.

In Bologna verabschiedet sich mein englischer Freund unten links. Ganz freundlich sagt er zu dem Mädchen. „I’m sorry. Have a nice trip.“ Das Mädchen antwortet auf Englisch. Doch nicht zurückgeblieben. Was ist dann mit ihm los? Ich verstehe es nicht.

Der Zugbegleiter kommt mit dem Frühstück. Das Mädchen brabbelt.

Ich kann jetzt in den Sack voller Aludosen sehen. Der ist gar nicht voller Aludosen, sondern auch voller anderem Zeug. Und die Aludosen sind irgendwelche Softdrinks. Doch kein Säufer. Warum ist das Mädchen dann so? Es brabbelt einfach weiter.

Ich verstehe das nicht.

Wir erreichen pünktlich Rimini. Die Familie steigt aus. Währenddessen brabbelt das Mädchen einfach weiter.

Ich verstehe das alles nicht. Vielleicht bin ich zurückgeblieben. It’s fucking night in my brain.

 

Meine Frau klärt auf: „Man sollte sein Kind nie Sören* nennen.“

 

Pünktlich und ohne eine Minute Verspätung erreichen wir Ancona.

Panoramabild Ancona

 

*Name von mir geändert. Aber der echte Name ist auch nicht viel besser. Der arme Junge.

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