Ein Beter betet aus der Erfahrung der Abwesenheit Gottes. Gott bliebt abwesend. Er antwortet nicht. Dem Beter bleibt nur der Blick in die Vergangenheit. Interpretation zu Psalm 77.
Hier der erwähnte Podcast über das schreien:
Transkript
Herzlich Willkommen zur 62. Episode.
Wenn ich jetzt sage, dass es in der heutigen Episode um einen Psalm geht, dann werdet ihr vielleicht denken: „Oh, wie langweilig!“ oder „Schon wieder das Übliche! Kennen wir ja schon!“
Aber bei Psalm 77 ist das anders. Er wird kaum gelesen, ist wenig bekannt und wenn er gelesen wird, überliest man die eigentliche Pointe, weil man so geprägt ist, von einem Gottesbild, dass diesem Psalm völlig quer steht. Ja, dass der Psalm in Frage stellt, ohne eine Antwort zu geben.
Es gibt also hier etwas Wichtiges zu entdecken. Und darum geht’s in dieser Episode.
Wie ich schon das letzte Mal erklärt habe, hängen die Podcast-Folgen in der Fastenzeit zusammen. Die Titel der Folgen ergeben einen Satz. Die letzte Folge hieß „An der Türschwelle des Lebens …“ und heute geht es weiter: „… schaust du zurück …“ .
Wir können das, worüber der Psalm spricht, bildhaft auch als Türschwelle verstehen, als eine Stelle, an der sich etwas entscheidet. Und heute geht es um das Zurückschauen genau an dieser Stelle, wo sich etwas im Leben entscheidet. Seid gespannt.
Jetzt hab ich genau das getan, was ich gesagt habe: Auf meine letzte Podcast-Folge zurückgeschaut. Diese haben sicherlich schon einige gehört. Bei allen treuen Hörerinnen und Hörern möchte ich mich dafür bedanken. Ich freue mich über eure Rückmeldungen, aber auch über die finanzielle Unterstützung via ko-fi oder PayPal. So ersparen wir uns alle lästige Werbung.
– Und jetzt geht’s schon los.
Ich möchte zuerst den Psalm 77 Abschnitt für Abschnitt durchgehen. Am Ende werde ich den ganzen Psalm in den Blick nehmen.
Die Überschrift des Psalms findet sich in Vers 1 und lautet:
Für den Chormeister. Nach Jedutun. Ein Psalm Asafs.
Psalm 77, Vers 1
Diese Überschrift zeigt, dass der Psalm von Beginn an für den Gottesdienst bestimmt war. Jedutun und Asaf sind zwei der bedeutensten Sänger zu Zeit von König David. Die Überschrift will wahrscheinlich sagen, dass Asaf den Psalm gedichtet hat und Jedutun ihn singen soll. Daher könnte auch er es sein, der mit Chormeister angesprochen wird.
Jedutun wird zudem in den Psalmen 39 und 62 erwähnt. Wichtiger ist aber, dass aus der Feder Asafs noch weitere Psalmen stammen sollen, nämlich der Psalm 50 und die Psalmen 73 bis 83. Man nennt diese Psalmen daher auch asafische Psalmen.
Wichtig ist also der gottesdienstliche Charakter. Denn der Psalm ist in Ich-Form formuliert. Dabei geht es also um keine konkrete Person, sondern darum, dass sich Gottesdienstteilnehmer:innen in diesem Psalm selbst mit ihrem Leben einschreiben können.
Der Psalm selbst zerfällt nun in mehrere Abschnitte und ich möchte jetzt abschnittsweise vorlesen und dann dazu etwas sagen: Den ersten Abschnitt nach der Überschrift bilden die Verse 2 bis 4
Ich rufe zu Gott, ich schreie, ich rufe zu Gott, dass er mich hört. Am Tag meiner Not suchte ich den Herrn; unablässig erhob ich nachts meine Hände, meine Seele ließ sich nicht trösten. Denke ich an Gott, muss ich seufzen; sinne ich nach, dann will mein Geist verzagen.
Psalm 77,Verse 2-4
Der Psalm beginnt mit einer Klage, wobei nicht genau gesagt wird, warum geklagt wird. Im Gegensatz zu anderen Psalmen, die den Grund der Klage sehr konkret benennen, lässt der Psalm hier den Anlass offen. Vielmehr wird die quälende Situation des Beters ganz allgemein zur Sprache gebracht. Tag und Nacht ist er auf der Suche nach Gott, erhebt unablässig seine Hände. Doch er findet keinen Trost. Er muss seufzen und verzagen.
Die Allgemeinheit der Klage eröffnet den Teilnehmer:innen von Gottesdiensten die Möglichkeit, ihre eigene konkrete Qual einzufügen. Das können auch wir heute.
Bei den Klagepsalmen haben wir es mit einer Spiritualität des Schreis zu tun. Sie stehen jeder Spiritualität quer, die in der Stille und im Schweigen Gott sucht. Der Klagepsalm geht von der quälenden Abwesenheit Gottes aus, quälend deshalb, weil der Beter sich in einer Notlage befindet, aus der nur Gott retten kann, er es aber nicht tut. Er kümmert sich nicht darum.
Die Qual führt zum Schrei, der Gott herbeischreien möchte. Dazu habe ich schon einmal eine Folge gemacht, die ich in den Shownotes verlinke.
Ich lese den nächsten Abschnitt von Vers 5 bis 7
Offen gehalten hast du die Lider meiner Augen; ich war aufgewühlt und konnte nicht reden. Ich sann nach über die Tage der Vorzeit, über längst vergangene Jahre. Ich denke an mein Saitenspiel, während der Nacht sinne ich nach in meinem Herzen, es grübelt mein Geist.
Psalm 77, Verse 5-7
Der Beter bleibt noch bei seiner gegenwärtigen Situation, bei seinem Nachdenken, was der biblische Mensch nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herz macht. So bleibt er die ganze Nacht wach.
Doch denkt er nun nicht mehr nur an die Gegenwart, sondern an die Vergangenheit. Was konkret er denkt, wird noch nicht gesagt. Das kommt später. Aber dieses Nachsinnen führt zu einer theologischen Frage, die er im folgenden Abschnitt formuliert. Ich lese die Verse 8 bis 10:
Wird der Herr denn auf ewig verstoßen und niemals mehr erweisen seine Gunst? Hat seine Huld für immer ein Ende? Hat aufgehört sein Wort für alle Geschlechter? Hat Gott vergessen, dass er gnädig ist? Oder hat er im Zorn sein Erbarmen verschlossen?
Psalm 77, Verse 8-10
Wenn ich vorher gesagt habe, Gott kümmert sich nicht um den Beter, höre ich schon die Einwände vieler: Gott kümmert sich immer! Gott ist immer bei uns! Nur wir erkennen das nicht! Oder: Wir spüren ihn manchmal nicht!
All jene, die so reden, sind zu schnell mit Gott fertig. Sie haben schon fixe, unverrückbare Antworten. Sie glauben nicht an einen lebendigen Gott, sondern einen inhaftierten. Er ist verhaftet in unserer Nähe, in der Enge der Leblosigkeit.
All jene, die so schnelle Antworten geben, können den Ernst die Fragen, die der Beter des Psalms jetzt stellt, nicht nachvollziehen. Für ihn ist es offen, wie Gott auf diese Not reagiert. Dramatischer noch: Der Beter befürchtet, dass Gott seine Gunst, seine Huld, seine Gnade und sein Erbarmen nicht walten lässt.
Nur wer Gott ernst nimmt, der kann diese Fragen stellen. Wer Gott nicht ernst nimmt, der sagt entweder, ihn gibt es nicht, oder, er ist immer da und lieb und nett und was weiß ich. Keiner von denen kann diese Fragen ernsthaft stellen.
Aber das Leben, die Dramatik der Klage, aus dieser können solche Fragen hervortreten. All jene, die es offen lassen, ob und wer Gott ist, die die Ambivalenz einer höheren Macht aushalten können, Gott Gott sein lassen können, weil er einfach nicht im menschlichen Denken erfassbar und nicht einfach verfügbar ist, können solche Fragen stellen.
Ja, solche „Gläubige“ – unter Anführungszeichen – können Gott sogar fragen, ob er vergessen hat, wer er eigentlich ist. „Hat Gott vergessen, dass er gnädig ist?“ So dramatisch ist die Beziehung zu Gott, dass der Beter befürchtet – mit Worten moderner Medizin -, Gott könne an Demenz leiden und vergessen haben, wer er ist.
Es folgt der nächste Abschnitt von Vers 11 bis 13:
Da sagte ich: Das ist mein Schmerz, dass die Rechte des Höchsten so anders handelt. Ich denke an die Taten des HERRN, ja, ich will denken an deine früheren Wunder. Ich erwäge all deine Taten und will nachsinnen über dein Tun.
Psalm 77, Verse 11-13
Mit Vers 11 wird eine Wende eingeläutet: Der Beter gibt sich selbst ein Antwort auf seine Fragen, aber eine Antwort, die keine ist. Sie lautet: „Gott ist so anders.“
Diese Antwort will genau das ausdrücken, was ich zuvor schon gesagt habe: Gott ist nicht auf eine eindeutige Wesensbestimmung fixierbar. Er bleibt der andere. Und für jeden, der schnelle Antworten parat hat, ist Gott nicht der andere, sondern der Hiesige, der Bekannte. Gott aber ist und bleibt der Fremde.
Diese Antwort ist zugleich keine Antwort: Denn sie sagt überhaupt nicht aus, wer und wie Gott ist. Wenn er der andere ist, ist es eben immer noch fraglich, ob er mich aus meiner Not rettet. Wie ist er denn, wenn er so ganz anders ist? Für meine Rettung aus größter Not ist das keine Antwort.
Diese Doppeldeutigkeit des ganz anderen Gottes zeigt sich im Psalm auch sprachlich. Es heißt da: „Das ist mein Schmerz.“ Das hebräische Ursprungswort für „Schmerz“ kann auch „Besänftigung“ bedeuten.
Also haben wir hier die Situation, dass die Andersheit Gottes sowohl Schmerz wie auch Besänftigung für den Beter sein kann. Alles wird in Ambivalenz gehalten.
Nun aber wendet der Beter endgültig seinen Blick in die Vergangenheit. Er spricht von den Machttaten Gottes, von seinen früheren Wundern. Der Beter schaut in die Vergangenheit und sieht dort, dass Gott früher Menschen, sein Volk aus höchster Not gerettet hat.
Das ist aber auch keine Antwort auf die zuvor gestellten Fragen: Früher, ja da hat Gott gerettet, aber heute? Hat er vielleicht vergessen, dass er all das getan hat und dass er eigentlich ein gnädiger Gott ist?
Im folgenden und letzten Abschnitt kommt der Beter nun auf die früheren Rettungstaten konkret zu sprechen. Er spricht von Jakob und Josef, irgendwie klingt auch Noah an, obwohl letztlich die Rettung aus der Sklaverei aus Ägypten durch das Meer mithilfe von Mose und Aaron gemeint ist.
Ich lese also die letzten Verse 14 bis 21 vor.
Gott, dein Weg ist heilig. Welche Gottheit ist groß wie Gott? Du bist die Gottheit, die Wunder tut, du hast deine Macht unter den Völkern kundgetan. Du hast mit starkem Arm dein Volk erlöst, die Kinder Jakobs und Josefs. Die Wasser sahen dich, Gott, die Wasser sahen dich und bebten, ja, die Urfluten gerieten in Wallung. Die Wolken gossen Wasser aus, das Gewölk ließ den Donner dröhnen, auch deine Pfeile flogen dahin. Dröhnend rollte dein Donner, Blitze erhellten den Erdkreis, die Erde bebte und wankte. Durch das Meer ging dein Weg, dein Pfad durch gewaltige Wasser; doch deine Spuren erkannte man nicht. Du führtest dein Volk wie eine Herde durch die Hand von Mose und Aaron.
Psalm 77, Verse 14-21
Wenn der Weg Gottes hier als heilig bezeichnet wird, dann ist das nur eine andere Formulierung für die Andersheit Gottes. Eine Stelle beim Propheten Jesaja bringt das schön zum Ausdruck:
Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des HERRN. So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken.
Jesaja, Kapitel 55, Verse 8f.
Wenn wir nun den Psalm als Ganzen ansehen, dann müssen wir sagen: Die Fragen, die Anfragen an Gott, die der Beter in der Mitte des Psalms aufwirft, scheitern. Er erhält keine Antwort. Gott meldet sich nicht. Gott schweigt. Er schweigt weiterhin. Er bleibt der Schweigende.
Von dem her hat dieser Psalm kein Happy End!
Der Beter kann nur sich selbst Antwort geben. Sie findet sie in der Andersheit, in der Heiligkeit Gottes und im Blick auf die Vergangenheit. Im Blick auf die frühern Machttaten Gottes schöpft der Beter Zuversicht, dass Gott am Ende doch ein rettender ist.
Dennoch ist das keine eindeutige Antwort. Wer weiß schon, wie Gott in Zukunft sein wird.
Und wie viel Zuversicht können wir eigentlich schöpfen, wenn das Vergangene schon so weit in die Vergangenheit gerückt ist, dass es schon gar nicht mehr wahr ist. Je länger die Taten Gottes zurückliegen, desto mehr verblassen sie zu mythologischen Erzählungen, die den Menschen in ihrer gegenwärtigen Not nicht mehr helfen. Fromme Erzählungen von einem schweigenden Gott, der womöglich schon tot ist.
Der Beter dieses Psalms, so können wir mit anderen Worten sagen, vermisst Gott. Er hätte gern einen Gott, aber ein solcher ist nicht da. Der Psalm hebt die gegenwärtige Gottverlassenheit nicht auf. Weder taucht Gott plötzlich irgendwo auf noch sagt der Psalm, dass sich der Mensch in der Abwesenheit Gottes täuscht.
Eher stellt der Psalm bisherige Gottesbilder in Frage … und lässt diese Frage offen. Die Leser:innen oder Beter:innen dieses Psalms erhalten keine Antwort, sondern können nur in die Klage einstimmen, ihr Leben in diese Klage einbringen und mit ihr die Abwesenheit Gottes aushalten lernen.