Afrikanischer Jesus - Diakon Karlheinz Six

Diakon Karlheinz Six

schreien

Titelbild: schreien

Hast du schon einmal eine Schrei-Meditation gemacht oder einen Schrei-Gottesdienst gefeiert. Ich auch nicht. Gegen den aktuellen Trend der meditativen Stille ist das Schreien jedoch ein wesentliches Element biblischer Spiritualität.

Diesen Podcast mache ich in meiner Freizeit. Wenn du diese Arbeit auch finanziell anerkennen möchtest, dann kannst du mich über ko-fi auf einen Tee einladen oder direkt über Paypal einen kleinen Betrag senden.

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Transkript

Herzlich Willkommen!

Schweigen

Wer hält denn dieses Schweigen und diese Stille aus? Man kann doch einen Podcast nicht schweigend beginnen!

Das Geschrei geht aber auch nicht. – Hier ist die 42. Episode des Podcasts „aus&aufbrechen“. Dem Podcast für eine offene und kritische christliche Spiritualität.

Und ums Schreien soll es heute gehen.

Bevor ich also mein weiteres Geschrei erhebe, mache ich noch schnell auf die Kontaktmöglichkeiten aufmerksam, die du in den Shownotes findest. Gern lese ich deine Nachrichten und Kommentare auf meiner Website. Ich freue mich auch, wenn du meine Podcasts mit anderen teilst. Und besonders danke ich dir, wenn du einen kleinen Obulus in meine Teekasse auf ko-fi legst. Ich mache ja diesen Podcast und meinen Blog „ziellos unterwegs“ in meiner Freizeit und finanziere daher alles privat.

Jetzt geht’s aber los!

Keine Sorge, ich werde jetzt nicht die ganze Episode hindurch schreien.

Für unsere heutige Zeit ist es ganz typisch, dass wir Gott in der Stille und im Schweigen suchen. Viele Meditations- und Exerzitienmeister*innen geben genau diese Anweisung: Sie sagen, wenn wir Gott finden wollen, dann müssen wir in die Stille gehen, in ein inneres Schweigen eintreten. Sie setzen das dann meist in den Gegensatz zum Lärm und zur Hektik des Alltags, in der Gottes Stimme nicht zu hören ist.

Tatsächlich ist ein weiterer Grundzug unserer Zeit das aufgeregte Geschrei, in das viele einstimmen. Meistens handelt es sich um bloße Kleinigkeiten, die von emotionalisierenden Medien aufgebauscht und boulvardesk präsentiert werden. Andere greifen die markanten Schlagzeilen auf und schießen sie über Soziale Medien durch diverse Kanäle. Jeder muss mal was hinausschreien. Es ist meist schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem geschrieen.

Und schon hat man den Eindruck, die ganze Nation steht Kopf. Und wer sich in den Sozialen Medien herumtummelt, bekommt schnell das Gefühl, er oder sie wird von allen Seiten angeschrieen.

Diesen Lärm des Alltags tragen wir in die Meditation der Stille hinein. So wird das wirkliche, echte Zur-Ruhe-Kommen in der Meditation zum Ziel. Denn nur in dieser Ruhe und Stille kann ich Gottes Stimme wahrnehmen. So die Lehre.

Zumeist ist diese Lehre von der Stille auch vom Paradigma getragen, dass Gott immer zu uns spricht, wir allerdings nicht immer zuhören. Gott ist also ein regelrechtes Plappermaul. Nur wir haben die Ohren entweder voll von anderem Lärm oder gerade auf Durchzug gestellt. So dringt Gottes allgegenwärtige Stimme nicht zu uns.

Wenn Gott aber ständig zu uns redet, was unterscheidet ihn dann eigentlich noch vom Lärm der Welt?

Nun, dieser Spiritiualität der Stille kann eine Spiritualität des Schreiens entgegengesetzt werden. Das ist natürlich eine Spiritualität, die uns nicht vertraut ist. Wir erkennen im Schreien keine spirituelle Praxis und keine Erhebung zu Gott. Ich habe auch noch nie von einer Schrei-Meditation gehört oder von einem Schrei-Gottesdienst. Ich habe auch in der Kirche noch nie ein geschrieenes Gebet gehört.

Mit dieser Traditionsentwicklung haben wir uns aber ein wesentliches Element jüdisch-christlicher Spiritualität genommen. Wer die Bibel aufmerksam liest, wird ständig mit Geschrei konfrontiert werden. In der Bibel wird sehr viel geschrieen. Heute erkennen wir nur nicht mehr die Relevanz dieses Schreiens.

Es wird aber in der Bibel so viel geschrieen, dass ich in einem Podcast gar nicht auf alle Stellen eingehen kann. Daher möchte ich nur ein paar Blitzlichter aufscheinen lassen.

Aber zuvor habe ich eine Frage: Wann hast du das letzte Mal geschrieen? Oder bist du gar keine Schreierin? In welcher Situation war das? Mit wem hast du geschrieen? Hast du schon einmal mit Gott geschrieen? Und vor allem: Warum?

Schauen wir also in die Bibel:

Zur grundlegenden Identität der jüdischen Religion gehört die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei. Die Israeliten wurde schwer unterdrückt. Durch Gottes eingreifen erlangten sie die Freiheit. Auf dieses Ereignis schaut das Buch Deuteronomium zurück und sagt:

Wir schrien zum HERRN, dem Gott unserer Väter, und der HERR hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der HERR führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten.

In der Bibel gibt es das Kriegsgeschrei, das Geschrei vor lauter Angst und auch das Freudengeschrei. Vor allem aber gibt es das Schreien zu Gott in der Not. Das ist die Grunderfahrung der Israeliten.

Gerade die Psalmen sprechen immer wieder von diesem Schreien des Beters, der in seiner Not laut seine Stimme zu Gott erhebt. So zum Beispiel im 18. Psalm:

In meiner Not rief ich zum HERRN und schrie zu meinem Gott, er hörte aus seinem Tempel meine Stimme, mein Hilfeschrei drang an seine Ohren.

Diesem Schreien steht aber etwas gegenüber, mit dem wir scheinbar heute nicht mehr viel anfangen können: das Schweigen Gottes. So heißt es zum Beispiel im Psalm 39:

Hör mein Gebet, HERR, vernimm mein Schreien, schweig nicht zu meinen Tränen!

Für die Bibel ist Gott alles andere als ein Plappermaul. Er kann einfach auch schweigen. Und in der Not wird dieses Schweigen oft sehr bedrückend. Je mehr Gott schweigt, desto lauter schreit der Mensch – bis er nur noch Haut und Knochen ist, wie der Beter im 102. Psalm sagt.

Im Falle der Unterdrückung in Ägypten hat Gott auf dieses Geschrei reagiert. Und eingedenkt der Taten Gottes rechnen die Psalmenbeter und -beterinnen damit, dass Gott ihr Geschrei hören wird.

Jedoch ist Gott nicht gezwungen, darauf zu reagieren. Die Propheten weisen darauf hin, dass sich Gott auch abwenden kann. So sagt z. B. der Prophet Micha:

Wenn sie dann zum HERRN schreien, wird er ihnen nicht antworten. Er wird sein Angesicht vor ihnen verbergen in jener Zeit, weil sie so böse gehandelt haben.

Wenn aber die Unterdrückten schreien, wie in Ägypten, dann hört Gott. So heißt es beim Propheten Jesaja:

Das wird zum Zeichen und zum Zeugnis für den HERRN der Heerscharen in Ägypten sein: Wenn sie vor den Unterdrückern zum HERRN schreien, schickt er ihnen einen Retter, der den Streit führen und sie befreien wird.

Und letztlich ist das auch beim Propheten Micha so, denn dieser sagt ja voraus, dass der Retter in Betlehem geboren wird. Gott wendet also sein Angesicht nicht für immer ab.

Und vor allem, wenn es um die Befreiung gegen die Unterdrückung geht, kann Gott ganz leidenschaftlich werden und selbst ins Schreien geraten. So liest man auch beim Propheten Jesaja:

Der HERR zieht in den Kampf wie ein Held, er entfacht seine Leidenschaft wie ein Krieger. Er erhebt den Schlachtruf und schreit, er zeigt sich als Held gegenüber den Feinden.

Wir sehen also, dass das Schreien ein ganz zentrales Element im Gebet der Gläubigen ist. Vor allem dann, wenn sie in Not sind, Unterdrückung und Ausgrenzung erleben und Gott als den Schweigenden wahrnehmen. Je lauter er schweigt, desto lauter wird das Geschrei. Die Stille, in der wir Heutigen oft meinen, Gottes Stimme hören zu können, wird vom Psalmbeter als Schweigen Gottes verstanden. In der Stille ist also Gottes Stimme auch nicht zu hören. Mit dem Schreien, Flehen und Klagen möchte man Gott zum Sprechen bringen.

Das erinnert auch an eine Stelle im Lukas-Evangelium: Jesus bringt das Beispiel, dass eine Mann zu seinem Freund geht, weil er dringend etwas zu essen benötigt. Der Freund liegt aber schon im Bett. Es ist mitten in der Nacht. Welcher Freund wird nicht helfen, fragt Jesus und sagt dann weiter:

Wenn er schon nicht deswegen aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seiner Zudringlichkeit aufstehen und ihm geben, was er braucht.

Jesus fordert damit geradezu heraus, dass wir Gott gegenüber lästig sind, wenn er nicht sofort reagiert. Und es gibt im Lukas-Evangelium noch andere Stellen, die das hervorstreichen.

Denn der biblische Mensch weiß eines: Gottes Worte sind nicht einfach Mitteilungen von Informationen. So denken wir heute, wenn wir in die meditative Stille gehen. Vielmehr sind Gottes Worte wirkmächtige Taten. Allein durch sein Wort wird alles geschaffen und durch sein Wort greift er befreiend in die Welt ein.

Und sein Wort ist Mensch geworden und hat unter uns gelebt. Dieses Mensch gewordene Wort nennen wir Jesus Christus.

Im Neuen Testament wird dann aber weniger geschrieen. Eine interessante Stelle gibt es im 5. Kapitel des Markus-Evangeliums: Da geht es um die tote Tochter des Synagogenvorstehers. Als Jesus kommt und zum Kind tritt, sagt er zu den Umstehenden:

Warum schreit und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur.

Wie Gott hört Jesus auf das Geschrei der Menschen. Das Kind lebt.

Aber es gibt im Neuen Testament noch ein anderes Geschrei, nämlich das verurteilende Schreien. So heißt es beim Evangelisten Lukas:

Die Leute aber schrien und forderten immer lauter, Pilatus solle Jesus kreuzigen lassen, und mit ihrem Geschrei setzten sie sich durch.

Das erinnert mich wieder an das aufgebrachte Geschrei des Boulvards aus unseren Tagen: Man glaubt, je lauter man schreit, desto mehr Macht hat man und kann sich durchsetzen. Oft genug schreien da aber nicht jene, die wirklich unterdrückt und ausgebeutet werden, sondern jene, die das zwar glauben, ihre eigene privilegierte Situation aber nicht erkennen. Es ist das Geschrei derjenigen, die in Selbstmitleid versinken und einfach den anderen die Schuld für ihre scheinbar miese Lebenssituation geben.

Gegen solches Geschrei setzt die Bibel noch einen letzten Schrei. Es ist der Schrei Jesu am Kreuz:

Und in der neunten Stunde schrie Jesus mit lauter Stimme: Eloï, Eloï, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Damit schließt sich wieder der Bogen zu den Psalmbetern und -beterinnen, denn Jesus zitiert den zweiten Vers des 22. Psalmes. Auch hier heißt es, dass der Beter zu Gott schreit. Jesus ist damit allen nahe, die auch in ihrer Not zu Gott schreien.

Der wesentlich Unterschied zwischen dem aufgebrachten Geschrei unserer Zeit und dem biblischen Schreien ist ganz einfach: In der Bibel schreien die Menschen zu Gott. In unserer Zeit schreien wir uns gegenseitig an.

Es kommt nicht von ungefähr, dass die so genannte Befreiungstheologie den Schrei der Armen zum Mittelpunkt ihrer Theologie macht. Diese Theologie will das Evangelium aus der Perspektive der Armen und der Opfer verstehen, also jener, die in unterdrückenden Strukturen und in bitterer Armut leben, für die sie nichts können. Diesen Menschen zu sagen, sie sollen leise sein und Gottes Stimme in der Stille hören, ist eher der überhebliche Hohn privilegierter Wohlstandsmenschen.

Die Armen können nur noch zu Gott schreien. Denn von Menschen werden sie nicht gehört. Ihre Not allein schreit zum Himmel: Herr, unternimm etwas! Schweig nicht! Wende dein Angesicht nicht von uns ab!

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