Afrikanischer Jesus - Diakon Karlheinz Six

Diakon Karlheinz Six

Ratlosigkeit angesichts toxischer Seelsorge

Titelbild: Ratlosigkeit angesichts toxischer Seelsorge

Will man sich heute noch mit dem Glauben auseinandersetzen oder hat die Kirche das den Menschen erfolgreich ausgetrieben?

In den letzten Wochen habe ich ein paar interessante Gespräche geführt. Sie haben mich zum Nachdenken angeregt. Von ein paar dieser Gespräche möchte ich hier erzählen.

 

Ein Gespräch hatte ich mit einer Bekannten. Sie ist knapp 30 Jahre alt, arbeitet im Sozialbereich, ist Mutter und verheiratet. Und jetzt kommt schon meine erste Hürde! Soll ich sagen – wie es so oft geschieht –, dass sie „kirchlich engagiert“ ist? Ich bin mir nicht sicher, ob sie das auch so sehen würde. Sie ist Teil einer Musikgruppe, die häufig in Kirchen bei Gottesdiensten singt und spielt. Ist man deshalb schon kirchlich engagiert? Nicht, dass ich ihr das absprechen möchte, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie den gleichen Ausdruck verwenden würde. Oder würde sie einfach sagen, dass sie gern in der Musikgruppe mitwirkt und „zufälligerweise“ oft in Kirchen spielt? Oder würde sie sagen, dass das Musizieren Ausdruck ihrer Spiritualität ist und die Kirche dabei eine Nebenrolle spielt? Ich weiß es nicht.

Über ihren Glauben sagt sie, dass sie sich etwas zurechtgelegt hat. Und das passt für sie so. Was sie sich da zurecht gelegt hat, weiß ich nicht. Ich habe mich nicht getraut nachzufragen. Ich hatte das Gefühl, dass ich da in einen Intimbereich eindringen würden.

Jedenfalls hat sie kein Interesse, sich mit anderen über ihren Glauben auseinanderzusetzen, ihn weiterzuentwickeln, in zu reflektieren. Sie ist so zufrieden, wie es ist.

Warum will sie das nicht? Auch das habe ich nicht gefragt. Ich möchte nicht wie ein Prüfer den Prüfling ausfragen, sondern respektieren, wenn sie über etwas nicht sprechen will. Dennoch frage ich mich, welche Gründe das haben kann. Ein paar Vermutungen:

  • Der Glaube ist so etwas Intimes, dass man nicht darüber sprechen will. Tatsächlich ist es leichter über Kirche zu reden – oder soll ich sagen: zu schimpfen – als über den Glauben. Daher gleiten viele Gespräche über den Glauben sehr schnell in kirchliche Themen ab.
  • In der Kirche hat sich eine eigene Sprache entwickelt, um über den Glauben zu sprechen. Diese Sprache passt für die meisten Menschen heute nicht mehr. Sie ist nichtssagend. Sie kann nicht das ausdrücken, was Menschen heute glauben. Und die Kirche scheint sich nicht zu bemühen, eine neue Sprache zu finden.
  • Viel zu lange hat die Kirche den Glauben der Menschen kontrolliert. Geschaut, ob sie wohl das Richtige glauben. Und wenn nicht, wurden die Menschen gemaßregelt. Niemand will sich einer solchen Situation aussetzen.
  • Ich glaube auch, dass viele Menschen unsicher sind in ihrem Glauben und dass sie sich schwer tun, zu dieser Unsicherheit zu stehen. Und wenn sie dann kritisch befragt werden, kann das sehr unangenehm sein.

 

Das sind ein paar Überlegungen. Welche Gründe kann es noch geben? Kommentare dazu sind sehr erwünscht, denn ich möchte eigentlich den Menschen Mut machen, sich über sich hinauszuentwickeln. Nichts anderes bedeutet den Glauben leben, spirituell leben. Ich bin der Überzeugung, dass der Mensch bereichert wird, wenn er über sich hinausgeht und sich nicht in sich einkapselt.

 

Mit einer zweiten Bekannten sprach ich. Lustigerweise hat sie die gleichen Charakteristika, die ich bei der ersten genannt habe: knapp über 30 Jahre alt, arbeitet im Sozialbereich, ist Mutter und verheiratet. Ich tue ihr sicher nicht unrecht, wenn ich sage, dass sie kirchlich nicht engagiert ist. Immer wieder merke ich, dass sie sehr mit ihrem Glauben – oder soll ich sagen: mit ihrer Beziehung zu Christus – kämpft.


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Wenn ich hier vorsichtig nachfrage, was dahinter steckt, gleitet das Gespräch sehr schnell in Richtung Kirche ab. Wie gesagt: Über Kirche lässt sich leichter reden, für den Glauben fehlt uns oft die Sprache. Aber im Gespräch mit ihr ergibt sich für mich noch ein anderer Eindruck: Die Kirche verstellt ihr den Glauben. Kirche ist in diesen Gespräch nicht jene Institution, die im Glauben behilflich ist, die etwas aufschließt, dem Gläubigen etwas eröffnet, sondern vielmehr etwas verschließt, den Glauben verstellt, ihn zudeckt. Die Kirche bewirkt bei den Menschen, gerade oft bei jenen, die spirituell interessiert sind, aber nicht zum innersten Kreis gehören, Widerstand gegen den Glauben.

Ich versuche im Gespräch dann immer, zwischen Glaube und Kirche zu trennen. Das gelingt nur mäßig, weil es sich auch nicht leicht trennen lässt.

 

Beiden Frauen ist gemeinsam, dass sie sich nicht in eine Gruppe begeben würden, mag sie noch so aufgeschlossen sein, um über ihren Glauben nachzudenken und sich so auch zu entwickeln. Zu fremd ist ihnen dieses Gruppensetting. Was bedeutet das für die Pastoral der Kirche, die immer viel zu oft, ja ständig nur auf die große Zahl schaut. Die Zukunft der Seelsorge wird aber in „Einzelarbeit“ bestehen. Das ist aufwendig und bindet viele Ressourcen. Aber die Menschen sind es wert.

 

Ich traf dann einen Ordensmann, den ich zuletzt vor 30 Jahre gesehen hatte. Oh, mein Gott bin ich alt geworden. Er auch. Naja, wie auch immer. Damals war ich ein Jugendlicher und er war in seinem Kloster sehr in der Jugendarbeit engagiert. Geendet hat unsere Zusammenarbeit mit einem Konflikt, der an dieser Stelle irrelevant ist.

Er ist mittlerweile in einem anderen Kloster. Wir haben über alte Zeiten gesprochen und wie toll das damals war. Er hat mir dann auch das Kloster gezeigt und Räume, in denen regelmäßig Gebetstreffen stattfinden, die vermutlich hauptsächlich von Jugendlichen und jungen Erwachsenen besucht werden.

Er hat mir einen Folder von diesen Treffen in die Hand gedrückt. Was sehe darauf? Unter anderen einen junge Frau von hinten, die vor einem Kreuz die Hand die Luft streckt. Die Geste der – naja, sagen wir mal – der Pentekostalen. Also derer, die in den Gebeten ständig den Heiligen Geist spüren und mit erhobenen Händen – ja, was weiß ich, warum die immer die Hände in die Luft strecken. Wollen sie den Heiligen Geist einfangen? Ist das eine Geste des Empfangens? Ich habe das noch nie verstanden.

Und ich habe gemerkt, dass ich dieser Spiriualität entwachsen bin. In meiner Jugend war das noch nicht so extrem wie heute. Aber es ist alles andere als meine Spiritulität. Ich verdächtige diese Gruppen, dass sie in Gott und seinen Geist mehr hineinprojiziert, als sie wirklich von ihm empfangen. Mal abgesehen von spirituellen Übergriffigkeiten, zu denen solche „pentekostalen“ Gruppierungen häufig tendieren. Was kein Urteil über die konkreten Gebetsgruppen dieses Klostern sein soll, die ich nicht kenne.

Aber ich habe auf diesem Folder noch etwas gesehen – oder besser gesagt: fast nicht gesehen: Ich musste zehn Mal draufschauen, bis ich ganz im Hintergrund einen Mann entdeckt habe. Ansonsten finden sich nur Frauen darauf. Kommen nur Frauen? Wollen sie hauptsächlich Frauen ansprechen?

Jedenfalls wage ich zu behaupten, dass meine beiden Bekannten, von denen ich oben gesprochen habe, zu einem solchen Gebetskreis nicht kommen würden. Es ist ein Angebot für ein kleines Segment von Menschen. Als solches ist es auch in Ordnung.

 

Und schließlich will ich noch von einem weiteren Gespräch erzählen. Ein Gespräch mit einem ehemaligen Priester. Ja, so kann man es ungefähr sagen. Wir haben uns sehr lange und ausführlich unterhalten. Und ein paar Themen möchte ich auch hier ansprechen:

  1. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass für die meisten Menschen, die auf einer spirituellen Suche sind bzw. spirituell interessiert sind, die Kirche weitgehend kein Ort mehr ist, der auf dieser Suche begleitet. Wie schon oben gesagt: Gruppen, mögen sie noch so frei, offen und aufgeschlossen sein, sind für diese Menschen keine Option mehr. Hier bedarf es vorwiegend der Einzelbegleitung durch kompetente, reife, den Menschen liebevoll zugewandte Seelsorger*innen.
  2. Ich habe von einer Beichte erzählt, die ich mit 16 Jahren hatte und die ich aus heutiger Sicht sehr zwiespältig sehe: Sie fand in einem Beichtzimmer bei einem Priester statt, den ich gut kannte. Sie dauerte eineinhalb Stunden.
    Einerseits habe ich durch diese Beichte erkannt, dass es im Glauben um mein Leben geht. Es geht nicht nur das Erfüllen von Riten – ich war ja Ministrant –, sondern es geht um mich und mein ganzes Leben und die Frage, wie ich dieses Leben führen möchte. Für diese Einsicht, die durch weitere Erlebnisse unterstützt wurde, bin ich heute dankbar.
    Andererseits hat sich der Priester auch übergriffig verhalten (ohne handgreiflich zu werden, wenn ihr versteht, was ich meine). Die Übergriffigkeit bestand eher in den Fragen, die er mir gestellt hat. Sein Fokus lag dabei ganz auf der Sexualität und der Frage nach der Masturbation. Und damit hat er den Keim dafür gelegt, dass ich über viele Jahre hinweg, meiner Sexualität nicht offen begegnen konnte. Sie war böse und durfte nicht gelebt werden. Es geschieht eine Spaltung: Eine christliche Scheinexistenz nach außen und eine böse Existenz nach innen. Ich spreche hier von den eigenen Denkstrukturen, in die man hineingerät. Viele Jahre und einige Therapiestunden hat es gebraucht, die Spaltung aufzulösen.
    Daher bin ich auch für die Abschaffung der Beichte. Zu diesem Thema gibt es auch ab 27. Oktober einen Podcast (siehe dann hier).
  3. Und das bringt mich zum eigentlichen Gespräch zurück. Uns beiden scheint, dass die Priester der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte alle solch gespaltene Persönlichkeiten sind. In ihren Talaren und klerikalen Gehabe repräsentieren sie ihre priesterliche Lebenshingabe, die – geht es nach der kirchlichen Lehre – nicht kompatibel ist mit dem, was sie in sich spüren. Und meist dreht es sich hier ebenso im weitersten Sinn um Sexualität und Intimität. Das Begehren einer Frau oder – was noch schlimmer empfunden wird – eines Mannes, der Drang zur Selbstbefriedigung, die Qualen der Einsamkeit und des Alleinseins, die Kränkungen, die jeder Mensch im Leben erfährt, mit denen aber Priester allein fertig werden müssen. All das wird als eine moralische Verwerflichkeit verstanden, sollte doch ein Priester voll und ganz mit Hingabe seine Berufung leben. Und dieser böse Anteil darf nicht sein. Er muss weg, weggedrängt werden.
    Ich bedaure diese Priester, die ihr Selbstbewusstsein aus ihrer äußeren Repräsentanz, aus der Anerkennung für ihre Arbeit und aus dem Lob von oben und die Karriere ziehen, anstatt aus dem Evangelium und dem Wort Gottes, das befreit. Besonders bei Priestern meiner Altergruppe und jünger fällt mir das auf. Es ist sichbar.
  4. Was will man sich von einer solchen Kirche eigentlich noch erwarten? Die Diözesanleitungen sehen einfach zu. Oder soll man sagen: Sie sehen das Problem nicht. Oder ist diese Formulierung besser: Sie verschließen die Augen davor.
    Entweder haben sie wirklich keinen Blick dafür, wie toxisch diese kirchliche Beziehungsdynamik ist. Oder für sie ist nur wichtig, dass alle Pfarren am Papier versorgt sind. Denn eine seelsorglich-menschliche „Versorgung“ (was für ein schreckliches Wort in diesem Zusammenhang) der Menschen ist durch die gehetzten Priester ja schon lange nicht mehr gegeben. Eine Einzelbegleitung von Menschen, von der ich oben gesprochen habe, wird immer unmöglicher.

 

Angesichts dieser Lage werde ich immer ratloser.

Auch wenn meine Spiritualität für andere oft schwere Kost ist, ja von einigen nicht einmal als Spiritualität angesehen wird, ist sie für mich eine Bereicherung und eine Befreiung. Sie lässt mich über mich hinausschauen, ja hinauswachsen auf das viel Größere hin. So kann ich die Fesseln dessen, was mich freiheitsraubend bindet, abwerfen zu einem befreiteren Leben im Heiligen Geist. (Dazu muss ich aber keine Hände in die Höhe strecken. Dazu mehr im kommenden Blog-Beitrag.) Ein Leben auf einen Gott hin, der keine Projektionsfläche für meine Bedürfnisse ist, sondern der erfahren wird als einer, der sich in die Ferne entzieht, um der viel größere Gott zu sein, als wir uns je ausdenken können.

Ich würde mir wünschen, dass viele Menschen diese Bereicherung und Befreiung erfahren. Aber wie soll das geschehen, wenn man nicht darüber spricht?

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