Afrikanischer Jesus - Diakon Karlheinz Six

Diakon Karlheinz Six

Zum fernen Gott beten

Titelbild: Zum fernen Gott beten

Ich habe ein gestörtes Gebetsleben. So habe ich sehr lange Zeit gedacht. Dahinter steht eine Idee von Gebet, mit der ich mich ehrlicherweise nie anfreunden konnte. Welche Idee ist das?

Bevor ich dieser Frage weiter nachgehe, muss ich ein Dilemma offen legen, das ich mir mit diesem Beitrag einhandle: Im sechsten Kapitel des Matthäusevangeliums schärft Jesus uns ein, dass wir vor den Menschen nicht prahlen sollen. Wir sollen uns nicht an die Ecken stellen und öffentlichkeitswirksam beten, um allen zu zeigen, welch gottgefälliges Leben wir führen. Mache ich aber nicht genau das, wenn ich nun über die Art und Weise meines Betens spreche?

Denn Sinn dieses Beitrages sehe ich vor allem darin, dass die Leser*innen angespornt werden sollen, selbst über das Beten bzw. über ihr Beten nachzudenken. Ich will – und das möchte ich besonders betonen – kein Vorbild sein, denn ich war und bin kein großer Beter, sondern hatte immer schon ziemliche Schwierigkeiten damit. Das wird man gleich lesen können. Ich bin hier selbst noch auf der Suche. Und vielleicht verändert sich auch einfach das Beten im Laufe des Lebens. Jedenfalls: Ich bitte darum, diesen Beitrag nicht als Darstellung eines Betideals und schon gar nicht als Angeberei zu verstehen, sondern als Zwischenstation eines Weges, der noch nicht fertiggegangen ist. Wahrscheinlich hat sich mein Beten schon geändert, wenn du diesen Beitrag liest.

Ich kehre also zur Idee zurück, von der ich im Beten zunächst ausgegangen bin: Als Diakon ist man verpflichtet (!) täglich das Stundengebet zu beten – morgens und abends. Also zweimal am Tag. Das ganze Stundengebet besteht aus sieben täglichen Gebeten. Wer das Stundengebet nicht kennt, hier ein paar Hinweise: Es besteht im Wesentlichen aus einem Hymnus, Psalmen, anderen biblischen Gesängen, einer Lesung, weiteren Gebeten und Fürbitten. Im Laufe von vier Wochen betet man so alle 150 Psalme durch. Naja, nicht alle, denn wenn ich nur morgens und abends bete, kommt zum Beispiel der Psalm 119 nicht vor, der nur in den kleinen Horen (9, 12 und 15 Uhr) gebetet wird. Aber egal.

Wer sich schon mal den einen oder anderen Psalm durchgelesen hat, wird merken, dass da viel drin steht, was nicht mehr unserer Lebensrealität entspricht. Wir beten sie trotzdem. Gesagt wird: stellvertretend. Das heißt: Es ist egal, in welcher Lebenssituation ich gerade stecke, wie es mir geht und wie es mir geht, wenn ich solche Psalmen bete. Meine emotionale Lage, meine eigene Spiriualität – das ist alles egal. Weil: Ich bete ja stellvertretend für andere, die gerade vielleicht in einer solchen Lebensituation bin. (Das ist übrigens eine Aufgabe, die nicht alle Christen trifft, sondern lediglich jene des geweihten Lebens, wie man so schön sagt.)

Also: Ich bin zum Stundengebet verpflichtet und bete es stellvertretend.

Da könnte ich jetzt eine theologische Diskussion beginnen, ob das sinnvoll ist. Möchte ich aber nicht. Vielmehr habe ich gemerkt, dass dieses Gebet für mich immer nur Geplapper war. Gut, manche Psalmen bringen tatsächlich manchmal meinen Glauben und meine Lebenssituation zum Ausdruck. Aber nur wenige und nur selten.

Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen.

Ich habe lange gebraucht, bis ich guten Gewissens dieser Pflicht zum Stundengebet nicht mehr nachgekommen bin. Davor war es nur schlechten Gewissens. Denn ich kann mein eigenes Geplapper nicht mehr hören. Noch viel weniger, wenn ich an diesen Ausspruch Jesu denke.

Also habe ich einen Prozess gestartet, in dem ich versuche, meine sehr persönliche Praxis zu finden, die ich aber nicht mehr als Gebet im engeren Sinn bezeichnen würde. Darunter verstehe ich ein Gespräch mit Gott. Das setzt voraus, dass er irgendwie anwesend ist. Zumindest in der Vorstellung sollte er ein Gegenüber sein.

Ich sehe mich hingegen einem Gott gegenüber, der weit in die Ferne gerückt ist. Wie soll man mit einem solchen Gott im Gespräch sein? Die passende Haltung scheint mir daher die Leere zu sein, die sich öffnet auf das Geheimnis, dass mir entgegenkommt, wenn es will. Diese Leere kann das Kommen nicht erzwingen, bleibt aber offen für das Erscheinen des Gesprächspartners.

Modern würde man also nicht vom Gebet, sondern von Meditation sprechen. Wobei die Meditation keinen Inhalt hat. (Denn solch inhaltlich geleitet Meditationen gibt es ja auch.) Vielmehr ist das Ziel eine offene Leere zu erzeugen. (Übrigens gibt es keine spirituelle Praxis, die nicht mittels Methoden gelernt werden muss. Auch das musste ich erst begreifen.) Das erinnert möglicherweise an den Zen-Buddhismus. Aber bei dem kenne ich mich nicht aus. (Ich habe übrigens auch noch nie ein Meditationsseminar oder Schweigeexerzitien besucht. Das interessiert mich derzeit auch nicht.)

 


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Wenn ich mich nun abends zum „Gebet“ begebe, beginne ich mit Musik. Ich habe auf Spotify eine Playlist mit Liedern, die mich in die Meditation einstimmen. Diese spiele ich ab, während ich die Vorbereitungen treffe. Sie endet automatisch, damit ich mich schon in die richtige Position begeben kann. Währenddesssen achte ich auf die Anspannung im Körper und wo ich noch lockern soll.

Bis vor kurzem habe ich eine orthodoxe Christus-Ikone aufgestellt und eine Kerze angezündet. Die Ikone lasse ich mittlerweile weg. Mit ihr verbindet man die Idee, dass sie den vergegenwärtigt, der darauf abgebildet ist. Das passt nicht so ganz zu dem entfernten Gott.

Die Kerze lasse ich allerdings bestehen. Sie ist ein vielfältiges Zeichen mit einem reichhaltigen Bedeutungsspektrum: Die meisten sehen in ihr zuerst das Licht und die Wärme symbolisiert. Die Kerze als Ganze kann aber auch als Jesus Christus gedeutet werden: Während sie nämlich Licht und Wärme spendet, zerstört sie sich selbst. Wie auch Christus uns erst im Tod Leben geschenkt hat.

Früher habe ich versucht, Weihrauch anzuzünden, um aus dem Alltagsraum vorübergehend einen „neuen“ Raum zu gestalten. Das hat aber bisher nicht gut funktioniert. Auch da muss ich mir noch etwas einfallen lassen.

Ich nehme dann meine Position ein: knieend auf einem Meditationspolster. Früher bin ich im Schneidersitz gesessen. Dabei sind mir immer die Beine eingeschlafen. Das Knien passt aber jetzt ganz gut.

Wenn die Musik aus ist, beginne ich in Stille. Und dann bete ich einen Hymnus zum Heiligen Geist: „Komm, Heil’ger Geist, vom ew’gen Thron …“. (Den ganzen Text siehe hier.) Hier ist nicht die Idee, dass der Geist Gottes schon da ist, sondern dass er im Kommen ist. Noch hält er sich fern. Es geht also nicht darum, dass man schon etwas „spürt“, wie es viele Geistbegeisterten (im letzten Beitrag habe ich sie „die Pentekostalen“ genannt) meinen. Vielmehr ist der Geist Gottes abwesend und der Hymnus eine einzige Bitte, dass die Leere in mir mit diesem Geist gefüllt wird.

Dieses Anfüllen mit dem Heiligen Geist ist nichts, was dann schon geschieht, was automatisch geschieht. Das wird immer wieder gesagt, dass allein aufgrund der Bitte das schon Wirklichkeit ist. Unser Gott ist aber kein Automat. Er kommt, wenn er kommt. Und wenn er nicht kommt, dann gilt es, diese Leere auszuhalten.

Ich bevorzuge das Gebet an den Geist Gottes, weil wir von ihm keine wirklich anthropomorphen (vermenschlichten) Bilder haben. Das hilft, über die üblichen Gottesbilder hinauszublicken zum größeren Geheimnis, das zugleich – und das schreiben wir dem Geist zu – uns lebendig macht. Der Geist Gottes ist die lebendigmachende Kraft. Und in der hebräischen Bedeutung ist er die weibliche Seite Gottes.

Danach verbeuge ich mich, indem ich meine Stirn auf den Boden lege. Das erinnert an die muslimische Unterwerfungsgeste. Ich verstehe es aber weniger als Unterwerfung, als vielmehr als klein machen. Viele wollen sich heute nicht mehr klein machen. Sie wollen lieber groß sein vor den anderen. Dieses Großseinwollen kann ich gut nachvollziehen bei Menschen, die in ihrem Leben immer niedergedrückt wurden. Aber es gibt auch eine Form des Großseinwollens, dass zerstörerisch wirkt. Das Kleinmachen hat da den Sinn, bewusst zu machen, dass es über mich hinaus noch anderes Wertvolles gibt.

So verharre ich einige Zeit. Es hilf mir auch, meine Gedanken in ein wenig Ruhe zu bringen.

Ich richte mich wieder auf und versuche nun in die Leere hineinzugehen. Dazu gibt es bekannte Methoden. Ein paar möchte ich erwähnen:

  • Aus der Achtsamkeitspraxis gibt es die Methode, die aufkommenden Gedanken wertfrei und wie ein*e Beobachter*in von außen anzusehen und sich dann auch von ihnen zu verabschieden. Natürlich bin ich auch aufmerksam darauf, welche Gedanken kommen, aber ich wende dann andere Methoden an.

  • Da wäre zunächst die klassische Methode, sich auf die Atmung zu konzentrieren. Überlegt habe ich auch, mir eine buddhistische Gebetskette zuzulegen, mit der man die Atemzüge zählen kann. Habe ich noch nicht gemacht. Steht also noch an. Andererseits frage ich mich, ob das wirklich eine Leere in mir erzeugt, wenn ich ständig ans Atmen denke. Aber evtl. ist es eine vorübergehende Methode.

  • Eine andere Methode ist das konzentrierte Schauen mit geschlossenen Augen in die schwarze Leere. Das funktioniert immer. Aber man braucht anfangs viel Energie, die Aufmerksamkeit zu halten. Mir gelingt das noch nicht so gut.

  • Schließlich kommt es vor, dass ich zeitweise die Luft anhalte und gleichzeitig ins Dunkle schaue. Da sind recht rasch alle Gedanken weg. Ich habe erst vor Kurzem gelesen, dass diese Methode auch von den Taoisten angewandt wird. Teilweise so extrem, dass sie Vergiftungserscheinungen haben, die sie als mystische Vereinigung mit dem Tao interpretieren. Na, so weit will ich nicht gehen.

Währenddessen achte ich auch immer auf meine Anspannungen im Körper. Wenn ich glaube, ich sollte mich wieder klein machen, mache ich das. Jedenfalls mache ich es am Schluss.

Wann ist eigentlich Schluss? Am häufigsten dann, wenn ich mein Gedanken-Wirrwarr nicht mehr in Griff bekomme. Ich habe nicht die Ambition, gewaltsam so lange wie möglich leer zu meditieren. Ich bin über jede Minute froh, die es mir gelingt. Und das genügt auch. Wenn Gottes Geist kommen will, wird er es auch in einer Minute schaffen.

Also, am Schluss gibt es nochmals eine Verneigung und dann ein kurzes Segensgebet.

Herr, segne mich,
bewahre mich vor Unheil
und führe mich zum ewigen Leben.
Amen.

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