Afrikanischer Jesus - Diakon Karlheinz Six

Diakon Karlheinz Six

In den Augen einen Menschen sehen

Titelbild: In den Augen einen Menschen sehen

Was siehst du, wenn du einem Menschen in die Augen schaust?

Wann vermeidest du den Blick des*der anderen, wendest dein Gesicht ab, um ja nicht dem*der anderen in die Augen zu sehen?

Ich mache das zum Beispiel immer, wenn ich auf der Straße Bettler*innen begegen. Egal, ob sie am Straßenrand sitzen oder auf mich zukommen. Ich vermeide den Blick. Ich will nichts geben und das ist mir peinlich, weil ich weiß, ich könnte geben.

Schnell taucht die Frage auf, ob es richtig ist zu geben oder die Gabe zu verweigern. Diese Diskussion möchte ich aber an dieser Stelle nicht führen. Vielmehr erzähle ich Geschichten von meiner Ghana-Reise 2023, in denen immer wieder die Frage auftaucht: Was ist jetzt, nicht allgemein, sondern in diesem Moment unter diesen besonderen Umständen das Richtige? Was soll getan werden?

Über das Richtigetun habe ich schon einen Blogbeitrag geschrieben. Darin meine ich: Das Richtige tun ist nicht immer angenehm. Ja, das Richtige tun ist der Tod aller Pläne.

Hier nun die Geschichten. Die Namen der Personen wurden verändert. Und wenn ich schreibe, dass ich Geld gab, dann war das nicht immer mein Geld, sondern auch das von Verwandten und Bekannten, die bereit waren, im Einzelfall eine Unterstützung zu geben.

 

Die Geschichte von Jacob …

… ist die Geschichte eines armen Bauernjungen, der sich für die schwachen Menschen seiner Umgebung einsetzen will. Seine Lösung ist die Bildung von Kinder und Jugendlichen, besonders jener, die sich mit dem Lernen schwer tun.

 

Jacob habe ich vor 14 Jahren auf meiner ersten Ghana-Reise 2009 kennengelernt. Damals war er 20 Jahre alt. Er stammt aus einem kleinen Dorf im Norden Ghanas. Seine Familie ist sehr arm. Er hat mehrere Geschwister. Sein Vater ist Farmer und kann gerade einmal den Lebensunterhalt für seine Familie erarbeiten. Die Mutter produziert Sheabutter.

Er erzählte uns, dass er gern eine Lehrer-Ausbildung machen will. Er hat nicht direkt nach Unterstützung gefragt. Meine Frau und ich sagten ihm nach längerem überlegen dennoch zu, seine Ausbildung zu bezahlen. Es hatte uns bedrückt, dass eine einfach Ausbildung, die noch dazu für österreichische Verhältnisse nicht viel kostet, nicht möglich sein soll.

Zwei Jahre später – bei unserer zweiten Ghana-Reise – konnten wir ihm persönlich das Geld übergeben. Er freute sich sehr.

Nach seiner Lehrer-Ausbildung trat er in das katholische Priesterseminar ein. Mittlerweile ist er Diakon und wird nächstes Jahr zum Priester geweiht.

Im Laufe der Jahre bat er einmal um Unterstützung für die Finanzierung eines Computers, ansonsten er sein Studium nur schwer abschließen könne. Und vor der Diakonen-Weihe bat er um Geld für (liturgisches) Gewand und Bücher.

Jacob könnte seine Ausbildungen nicht machen, würde er keine fremde Unterstützung erhalten. Seine Familie ist zu arm dazu. Ist es richtig, auf diese Art zu geben?

Jedenfall ist Jacob bestrebt, nun, wo er fast am Ziel seines Berufswunsches angekommen ist, jenen zu helfen, die sich selbst schwer tun. Konkret: Er möchte eine Schule gründen, in der Kinder aus armen Familien, die sich schwer beim Lernen tun, unterrichtet werden. Sie sollen nicht in einer Klasse mit 60 Schüler*innen sitzen, wie es in Ghana teilweise üblich ist. Eine optimale Unterstützung soll in einer kleinen Gruppe gewährleistet werden.

Das, was er bekommen hat, möchte er nun an andere weitergeben.


Kurzer Hinweis Blog und Podcast mache ich in meiner Freizeit. Wenn du diese Arbeit auch finanziell anerkennen möchtest, dann kannst du mich über ko-fi auf einen Tee einladen oder direkt über Paypal einen kleinen Betrag senden.

Die Geschichte der Sheabutter-Frauen …

… ist die Geschichte von sehr fleißigen, freundlichen Frauen, die unter schweren und gesundheitsschädlichen Bedingungen arbeiten.

Esther habe ich auf meiner aktuellen Reise in Kumasi kennengelernt. Sie wohnt eigentlich in Tamale, hatte aber in Kumasi zu tun. Sie sprach mich an, weil ich ihr verloren vorkam – so als Weißer in einem schwarzen Land.

Es tat irgendwie gut, dass ich als Weißer einmal nicht als der Reiche gesehen wurde, der um alles mögliche angebettelt werden kann. Ich wurde mehr als das gesehen, was ich in diesem Moment auch war.

Esther lebte für kurze Zeit in Dänemark. Sie weiß also, wie es in Europa ist. Und sie weiß, wie es ist, sich in einer anderen Kultur zu bewegen.

Tamale ist jene Stadt, in der ich mich hauptsächlich aufhielt. Und recht bald, als ich dort ankam, traf ich zufällig auch Esther wieder. Ich erfuhr etwas mehr über sie.

Sie unterrichtet auf der Universität in Tamale im Bereich Gesundheit. Daneben vertreibt sie Sheabutter-Produkte. Handcremen, Bodylotion, Haarsalben usw.

Ich fragte sie, ob ich einige ihrer Produkte kaufen kann. Sie brachte mich dann gleich zu einer Produktionsstätte, in der ich sehen konnte, wie aufwendig Sheabutter produziert wird. Dabei handelte es sich um ein Frauenprojekt, bei dem es um Empowerment und Selbstständigkeit geht.

Die Frauen schienen sehr fleißig zu sein. Sie waren sehr freundlich und haben sich über meinen Besuch gefreut.

Sie verrichten keine leichte, sondern eine körperlich anstrengende Arbeit. Es herrschen für meine Augen auch schlechte Arbeitsbedingungen: Im Laufe des Produktionsprozesses werden die Zwischenprodukte immer wieder erhitzt. Die Feuerstellen sind offen und der ganze Rauch qualmt herum. So ziemlich keine Frau benutzt einen Mundschutz. Das geht mit der Zeit auf die Lungen.

Der Leiter dieser Einrichtung erzählte, dass sie Öfen anschaffen wollen, um das Problem zu beseitigen. Jedoch fehlt das Geld. Ich habe ihnen dann 300 Cedi (rund 23 Euro) gespendet. Aber am liebsten hätte ich gleich die Öfen gekauft. Denn diese Arbeitsbedingungen erschreckten mich.

Esther brachte mich dann zur ihrer Mutter, wo ich ihr um 400 Cedi (rund 30 Euro) Sheabutter-Produkte abgekaufte.

Die Geschichte von Judith …

… ist die Geschichte einer jungen Frau, die aus ihrem Leben mehr machen möchte, als Stoffe und Taschen am Straßenrand zu verkaufen.

Judith habe ich vor 12 Jahren kennengelernt. Da war sie 12 Jahre alt. Sie verstand sich damals sehr gut mit unseren Kindern, die oft miteinander spielten. Mit ihrer Mutter kam sie immer wieder zu unserer Unterkunft, um ihre Waren – Stoffe und Taschen – zu verkaufen.

Bei meiner jetzigen Reise habe ich nach ihr gesucht. Mittlerweile ist sie ja eine junge Frau geworden. Ich fragte eine Angestellte meiner Unterkunft, von der ich annahm, dass sie Judith kennen müsste. Wenige Tage später stand sie mit ihrer Mutter vor meiner Zimmertür. Sie freute sich sehr. Ich mich auch.

Ich zeigte ihr dann die Fotos von damals. Es war ein sehr schönes Wiedersehen. Da es schon Dunkel war, vereinbarten wir für den nächsten Tag ein Treffen. Ihr Geschäft war tatsächlich gleich in der Nähe.

Am nächsten Tag ging ich also in ihr Geschäft, wir unterhielten uns und ich kaufte auch ein paar Sachen. Naja, am Ende waren es 1.700 Cedi (ca. 130 Euro). Die Mutter wollte mir noch mehr verkaufen, was ich aber freundlich ablehnte. Das veranlasste die Mutter noch zur Frage, ob ich den Waisenkindern etwas spenden wolle. Diese Frage ließ ich unbeantwortet.

Im Gespräch habe ich folgendes erfahren: Judiths Mutter ist alleinerziehend. Ihr Mann ist gestorben, da war Judith gerade mal drei Jahre alt. Gemeinsam müssen sie ihr Leben bestreiten und verdienen mit dem Shop gerade mal das Nötigste zum Leben. Judith hat die Senior High School beendet und möchte nun auf die Universität. Sie will Ernährungsberaterin werden.

Wir machten dann Fotos und Judith wollte die Fotos ausdrucken lassen. Also fuhren wir in die Stadt zu einem Fotoshop.

Danach lud ich sie zum Essen in ein Restaurant ein. Es schien mir passend, obwohl ich auch hier überlegt hatte, ob das wirklich sinnvoll ist. Welche Botschaft übermittle ich ihr? Komme ich da nicht als der reiche Weiße, als der ich gar nicht kommen wollte? Als wir gegessen hatten, hat sie mich gefragt, ob sie auch ihrer Mutter Essen und Getränk mitbringen darf.

Wenn du ihr in die Augen schaust, was siehst du dann? Dann begegnet dir ein Mensch. Kann man zu einem Menschen Nein sagen?

Eine Woche später trafen wir uns wieder. Wir unterhielten uns sehr gut. Vor allem über unsere unterschiedlichen Kulturen. Sie bat mich dann aber auch, ob ich ihr nicht das erste Jahr auf der Universität bezahlen kann. Das wären 3.500 Cedi (ca. 270 Euro).

Als Ernährungsberaterin würde sie hauptsächlich Kinder beraten, vor allem schlecht ernährte, die spezielle Diäten brauchen. Aber auch Schwangere gehören zur Zielgruppe. Eine gute Ausbildung hilft also den Menschen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Ich verabschiedete mich mit dem Aussage, dass ich mir das überlegen werde.

Aber, wer kann nein sagen, wenn er dem anderen in die Augen schaut?

Eine Woche später war ich wieder in ihrem Laden. Sie freuute sich sehr mich zu sehen. Sie hatte für mich gekocht. Tiset. Wir aßen es gemeinsam. Währenddessen bearbeitet mich die Mutter, ein Grundstück zu kaufen und ein Haus zu bauen. Außerdem hätte sie gern, dass ich ihr einen Kühlschrank fürs Geschäft kaufe. Hintergrund: Mit Kühlschrank könne sie auch Getränke verkaufen und das würde mehr Kunden ins Geschäft bringen. Ich aber ließ die Frage unbeantwortet.

Ich hatte ohnehin schon die Schulgebühren für Judith in der Tasche. Das musste reichen. Judith freute sich sehr. Für sie wird ein Traum wahr und sie überschlug sich mich Dankesworten. Das war mir etwas peinlich, denn was für sie eine große Chance ist, sind für mich nicht einmal 300 Euro.

Die Geschichte von Naomi …

… ist die Geschichte einer der freundlichsten und zurückhaltensten Menschen, die ich je getroffen habe und die auch nach ihrer Chance im Leben sucht.

Am Beginn meines Aufenthaltes in Tamale ist jeden Tag am frühen Nachmittag eine junge Frau mit ihrem Roller angedüst gekommen. Ihr herzliche Art der Begrüßung fiel mir sofort auf. Ich war immer wieder so überrascht, dass ich mir im Vergleich sehr unhöflich vorgekam. Ich habe ohnehin den Verdacht, dass wir Europäer*innen zu einer solchen Freundlichkeit gar nicht fähig sind.

Mit der Zeit bekam ich dann mit, dass sie die Köchin in der Jungle-Bar ist, die zur Unterkunft dazugehört. Die Bar, nicht die Köchin.

Daneben gibt es noch eine Kellnerin. Beide arbeiten täglich von Montag bis Sonntag in der Bar. Ein, zweimal im Monat haben sie einen Tag frei.

Sie verdienen 500 GHS (rund 38 Euro) im Monat. Ein normales Gehalt für diese Tätigkeit. Das verrät nun auch die Relationen zu den anderen Beträgen, die ich in diesem Beitrag angeführt habe.

Eines Tages kam ich mit beiden ins Gespräch. Beide haben ganz andere Ausbildungen. Die Köchin ist eigentlich Krankenschwester und die Kellnerin ist Schneiderin.

In Ghana gibt es einen Überschuss an Krankenschwestern. Daher möchte Naomi ins Ausland gehen. Sie denkt an die USA. Jedoch hat sie keine Kontakte. Und diese braucht man, damit sich eine solche Chance eröffnet.

Wie die Situation in Österreich ist, wissen wir. Ich habe dann gemeint, dass wir in Österreich einen Mangel an Krankenschwestern haben und dringend welche aus dem Ausland benötigen.

Kurzum: In den nächsten Wochen ließ ich ihr Informationen zukommen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um in Österreich als Krankenschwester zu arbeiten. Wir haben mehrmals gesprochen und ich habe meine Hilfe zugesagt. Gleichzeitig habe ich auch klar gestellt, dass ich nicht versprechen kann, dass es gelingen wird.

Ist es richtig, einen Wegzug aus Ghana nach Europa zu unterstützen? Sicherlich haben beide Seiten einen Bedarf: Naomi will als Krankenschwester arbeiten, bekommt aber in Ghana keinen Job von dem sie leben kann. Und Österreich braucht dringend Krankenschwestern.

Zudem muss sie für Österreich Ausbildungen nachmachen. Was aber andererseits bedeutet, dass sie als hochqualifizierte Facharbeiterin eines Tages nach Ghana zurückkehren kann, um ihr Wissen dort einzubringen.

Aber ich traf viele, die Ghana verlassen wollen. Sie wollen ihre eigenen Lebensbedingungen und die ihrer Verwandten durch Geldleistungen verbessern. Aber sie wollen ihr Land nicht weiterentwickeln. Sie sehen aufgrund politischer Korruption, aber auch mangels Bildung keine Hoffnung, dass sich in diesem Land etwas verbessern kann. Wie soll es aber unter diesen Bedingungen mit Afrika überhaupt weitergehen? Werden wir die Menschen im Elend verrecken lassen, damit wir unsere Wohlstandbäuche weiterhin vor uns hertragen können?

Im Gegensatz zu vielen anderen, muss man Naomi Hilfe oder eine kleine Einladung förmlich aufdrängen. Zum Beispiel schlug sie meine erste Einladung zu einem Getränk aus. Es kostete mich einige Überredungskünste und ein bis zwei Tage Zeit, bis sie sich dann doch einladen ließ.

Naomi hat mir dann auch ein wenig ihre Geschichte erzählt: Sie ist 24 Jahre alt. Vor einem Monat ist ihre Mutter gestroben. Sie war Mitte 50. Ihr Vater war Soldat und ist bei der Verfolgung eines Kriminellen erschossen worden. Er war erst 36 Jahre alt und Naomi ein kleines Kind.

Als sie mir das erzählte, liefen ihr Tränen über die Wangen.

Sie hat Geschwister, mit denen sie teilweise zusammenlebt. Zwei Schwestern sind / waren verheiratet, denn eine davon ist schon Witwe. Todesursache weiß ich nicht.

Wie gesagt: Sie hat mir das erst erzählt, als ich meine Hilfe schon zugesagt habe. Aber wenn du diese Geschichte hörst und du dir dein Herz weich machen lässt, sodass die Person, die dir gegenüber sitzt, als Mensch begegnet, kannst du deine Augen nicht mehr abwenden und deine Hand muss helfen.

Die Geschichte einer Namenlosen …

… ist die Geschichte einer Bitte, die wie aus dem Nichts kommt. … und dein Innerstes berührt, das nicht Nein sagen kann.

Meine Unterkunft hat zwei Rezeptionistinnen, deren Namen ich nicht kenne. Am vorletzten Tag meines Aufenthaltes machte eine von ihnen die Rechnung fertig. Dann fragt sie mich, ob ich ihr helfen kann. Sie habe ein gesundheitliches Problem, müsse ins Krankenhaus, habe dafür aber kein Geld.

Ich spüre in mir, wie Widerstand aufsteigt. Was ist, wenn in den letzten Tagen plötzlich alle Angestellten mit einer Geschichte daherkommen und Geld von mir wollen? Soll ich anfangen, mein ganzes Geld zu verteilen?

Aber wie kann ich medizinische Hilfe einfach so verweigern? Ich fragte, welchen Betrag sie braucht. Sie meinte, jede Hilfe wäre ihr recht. Ich meine, dass ich nicht abschätzen kann, ob sie 10 oder 500 GHS benötigt. Sie sagt, dass sie 270 GHS (rund 20 Euro) braucht.

Als ich ihr gegenüber stand, ihr in die Augen sah, habe ich mich geschämt. In welcher Welt leben wir, dass Menschen auf diese Art betteln müssen, weil die finanziellen Mittel für eine Gesundheitsversorgung nicht ausreicht? Dass Menschen nach jedem Strohhalm greifen müssen?

Und soll ich den Strohhalm verweigern, wenn er gerade mal 20 Euro wert ist?

Meine ganz subjektive Empfindung: Wenn ich in die Augen der Ghanaer*innen schaue, sehe ich eine existenzielle Traurigkeit. Sie sind freundliche, oft sehr fröhliche und hilfsbereite Menschen. Doch ist ihr Leben getragen von einer Stimmung der Traurigkeit, einer schweren Last, die auf ihren Schultern wiegt. Diese Gestimmtheit ist der Grundton ihres Lebens.

Und ich kann mich dieser Traurigkeit nicht entziehen. Sie macht auch mich traurig. Ich empfinde diese Traurigkeit aber nicht als Belastung, sondern als Weg zum Wesentlichen des Lebens. Darin liegt auch der Grund, warum ich in der Krisenintervention und als Trauerbegleiter gearbeitet habe und warum ich von Ghana nicht so einfach loskomme.

Ich gab der Rezeptionistin das Geld, sagte aber, dass ich nicht jedem Angestellten hier Geld geben könne. So viel hätte ich nicht.

Ich versuchte mich zu schützen. Aber wovor eigentlich? Ich weiß es nicht. Wie arm wäre ich geworden, wenn ich noch ein paar Mal 20 Euro gegeben hätte? Vielleicht war es der Versuch, meine Augen zu verschließen. „Die anderen sollen mir nicht unter die Augen kommen.“ Das wollte ich wahrscheinlich sagen. Denn diese Augen verändern etwas in mir; sie machen mich weich. Wohin soll das noch führen?

Am Ende bin ich das geworden, was ich nicht sein wollte: der reiche, weiße Europäer, der Geld verteilt.


4 Antworten

  1. „Am Ende bin ich das geworden, was ich nicht sein wollte: der reiche, weiße Europäer, der Geld verteilt.“
    Der reiche weiße Europäet bist zu sowieso, das kannst du nicht ändern. Du kannst nur entscheiden, ob du dein Geld TEILST – das klingt für mich besser als VER-teilst. Damit verliert dein Tun die Überheblichkeit, die du vielleicht fürchtest.

    1. Danke für deine Rückmeldung. Ich gebe dir vollkommen recht. Als Teilen habe ich das nicht gesehen.
      Ich habe jetzt nur hin- und herüberlegt. Sicherlich schwingt beim „verteilen“ eine Überheblichkeit mit. Fehlt diese aber wirklich beim Teilen? (Mir fällt da sofort der Hl. Martin ein, von dem ich nie verstanden habe, warum er nicht den ganzen Mantel hergibt.)
      Aber abgesehen von der Überheblichkeit geht es noch um anderes: Ich gebe das Bild eines Reichen ab, die Geld wie Heu hat. Ist das so? Und das ist das Zwiespältige: In Ghana bin ich tatsächlich der Reiche, aber nur deshalb, weil das Preisniveau so niedrig ist. Kehre ich nach Europa zurück, bin ich kein Reicher mehr. (In diesem Kontext bezieht sich das Reichsein nur auf den Geldbesitz.) Wenn ich also Geld (ver)teile, welches Bild entsteht da von mir und ist es das richtige?
      In einem Beispiel kommt ja raus, dass manche mich betrachteten wie ein Fass ohne Boden: Noch was kaufen und noch was und noch was. Und wenn nicht kaufen, dann bitte eine Spende. Und später dann noch was kaufen und herschenken. Wo ist es gerechtfertigt, Stopp zu sagen?
      Und ich habe noch etwas in mir gemerkt: Ich hatte Angst, dass viel mehr Menschen noch kommen und Geld wollen und ich dann nicht einfach nein sagen kann. Aber diese Angst offenbart meine engen Grenzen, mein Nicht-Verzichten-Wollen. Denn wären tatsächlich viele gekommen, ich hätte sicher genug Geld gehabt, um es zu verteilen. Ich hätte halt nur an einer anderen Stelle einsparen können, an einer Stelle, die für mich Luxus ist, den ich nicht unbedingt brauche. Und ich spüre, dass ich das nicht will. Und das finde ich nicht in Ordnung von mir selbst.
      Wieso will also ich nur den halben Mantel hergeben, wenn ich auch den ganzen geben könnte? „Macht euch keine Sorgen, was ihr essen oder anziehen sollt. Gott wird für euch sorgen.“ Sagt Jesus. Während die Ghanaer tatsächlich nach diesem Grundsatz leben können, kann ich das nicht. Und das schwingt in dem Satzteil mit, wo ich sage „Ich bin das, was ich nicht sein wollte“, nämlich jemand der seinen ganzen Mantel gibt. Aus Angst.

  2. wenn du deinen „ganzen mantel“ geben willst, darfst du keine anderen verpflichtungen wie familie haben. sonst nimmst du denen ein stück vom „mantel“ – eine metapher für fürsorge – weg.
    und martin hat „nur“ den halben mantel gegeben, weil er für beide gereicht hat. wieso hätte es sinn gemacht, den ganzen mantel zu geben und selber zu erfrieren?

    1. Auch darin gebe ich dir recht. Ich habe auch nicht jene materiellen Ressourcen gemeint, die ich bzw. meine Familie benötigt. Ich spreche von allem, was darüber hinausgeht. Hier muss ich eigentlich keine Angst haben. Wenn sie aber da ist, die Angst, dann ist es keine vor existenzieller Not, sondern vor Einbußen von Dingen oder Aktivitäten, ohne die ich auch ganz gut leben kann.

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